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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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offensichtlich nicht bildungsfähig. Die Leibesfreude der Griechen fiel bei Humboldt durchs Raster. Ein bisschen Gymnastik gegen den vom Latein- und Griechischbüffeln gebeugten Rücken sollte genügen. Dass Bewegung den Geist formt, dass Tanzen den Horizont erweitert, dass Fairness und Gerechtigkeit beim Sport gelernt werden können, blieb dem preußischen Gelehrten fremd. Und mit ihm ungezählten Generationen von Bildungsministern und Gymnasialdirektoren.
    Humboldts Erbe
    Über zwei Jahrhunderte hatte das Wort » Bildung « trotz aller Widrigkeiten einen positiven Klang. Gebildet sind oder fühlen wir uns alle gern. Dies unterscheidet Bildung von artverwandten Worten wie » Pädagogik « oder » Didaktik « , die einen ähnlich aufregenden Klang haben wie » Schule « oder » Fachseminar « , vom » methodengeleiteten Unterricht « ganz zu schweigen. Jemanden unterrichten klingt dröge. Jemanden bilden klingt gut.
    In dem, was in der Nachfolge Humboldts Bildung heißt, steckt nicht nur die vage Idee einer zweckfreien Bildung für möglichst viele, wenn nicht sogar für alle. Nicht weniges, was dem Bildungsbürger des 20. und 21. Jahrhunderts heilig ist, hat mit Humboldt so viel zu tun wie Donald Duck mit einer Stockente. Fast die gesamte deutsche Universitätslandschaft entstand nicht aus Humboldtschem Geist (auch wenn sich Hochschulen heute gern auf ihn berufen). In Wahrheit nämlich galt Humboldt im 19. Jahrhundert weitgehend als eine Persona non grata, als ein preußischer Phantast. Und da er von seinem umfangreichen Schrifttum zu Lebzeiten fast nichts veröffentlicht hatte, fehlte ihm überdies auch die Voraussetzung dafür, ein Klassiker zu werden.
    Weit stärker als der Humboldtsche prägte der Geist des Protestantismus die humanistischen Gymnasien. Er sorgte dafür, dass Humboldts altsprachiges Ideal in Klausuren, Noten und Hausarbeiten gegossen und gestanzt wurde. Schon bald bot sich Bildung als kultische Veranstaltung an mit säkularen Lichtgestalten, kanonisierten Klassikern, memorierten Sinnsprüchen und ritualisierten Deklinationen. Und was Humboldt zweckfreie Bildung genannt hatte, wurde im Verein von Thron und Altar zum autoritären Programm der Erziehung vielseitig verwendbarer obrigkeitstreuer Untertanen.
    Was seine Vorstellung einer allgemeinen Volksbildung jenseits des Gymnasiums anbelangt, so stieß sie über mehr als hundert Jahre immer wieder auf Granit. In der Vormärz-Zeit bekräftigte der » Gesellige Lehrerverein « 1848 die Forderung, eine Einheitsschule für alle Kinder zu schaffen: » ein Volk, eine Schule « . Man mahnte die deutschen Fürsten, die allgemeine Schulpflicht ernst zu nehmen. Tatsächlich nämlich blieben noch Mitte des 19. Jahrhunderts die meisten Bauernkinder zu Hause, statt in eine Schule zu gehen. Ein Zustand, mit dem die Landesherren gut leben konnten, standen doch fast überall weder genügend Gebäude noch ausreichendes Lehrerpersonal zur Verfügung; ein Dilemma, das erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts in ganz Deutschland behoben war.
    Was im Laufe dieses mühseligen Prozesses auf der Strecke blieb, war das, worum es Humboldt in erster Linie gegangen war: die Erziehung zur Mündigkeit, zum kritischen und reflektierenden Staatsbürger. Fast hundert Jahre mussten vergehen, bis der Münchner Reformpädagoge Georg Kerschensteiner (1854 –1932) Die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend im Jahr 1901 erneut in den Mittelpunkt der Pädagogik stellte unter dem Motto: » Politische Bildung für alle! « Ein guter Staatsbürger, in diesem Punkt widersprach Kerschensteiner Humboldt, wurde ein Arbeiterkind allerdings nicht durch zweckfreie Bildung, sondern durch eine handfeste Ausbildung. Die Kinder der Unterschicht sollten vor allen anderen Dingen lernen, selbsttätig zu sein. Für Kerschensteiner entfaltet sich die Persönlichkeit des Kindes nicht in erster Linie durch Wissen, sondern durch Tun. Die Kinder sollten kochen und werken lernen, gärtnern und experimentieren. Nur was praktisch beherrscht wird, ist gewusst und gekonnt, und was keine praktische Bedeutung hatte, zog den Verdacht auf sich, nutzlos zu sein. Auf diese Weise meinte Kerschensteiner, werde aus dem Arbeiterkind ein mündiger Staatsbürger.
    Für den Reformpädagogen, der Anfang des 20. Jahrhunderts in die lichtlosen Hinterhöfe in Münchens Arbeitervierteln blickt mit ihren vielen verwahrlosten Kindern, ist das Bildungsziel der selbsttätige Handwerker, nicht der gebildete Dandy, der durch
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