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Im Auge des Feuers

Im Auge des Feuers

Titel: Im Auge des Feuers
Autoren: Jorun Thoerring
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Kapitel 1
    Tromsø, 15. Oktober 2007
    Der Mann, der sich dem Haus näherte, musste ein Ortsfremder sein. Er trug einen Mantel mit Pelzkragen, außerdem Schal und Strickmütze. Dabei hatten sie heute nur zwei Grad minus und es lag nicht einmal Schnee. Eingehüllt in die Dämmerung kam er langsam heran. Sein Gang war gebeugt und der Blick auf die Tür gerichtet, als gebe er den Befehl, sie zu öffnen.
    Johan Fjeld war sich nicht sicher, ob er diese Person schon einmal gesehen hatte, und blieb unschlüssig hinter den Gardinen stehen. Irgendetwas an der Erscheinung, an der Art, wie sich der Mann bewegte, kam ihm bekannt vor. Löste Unbehagen aus. Er sollte vielleicht nicht öffnen, dachte Johan, während sein Blick der Gestalt folgte.
    Johans Erinnerung wurde allmählich deutlicher. Der linke Fuß, den der Typ etwas höher hob als den rechten, deutete auf eine alte Verletzung hin. Dieser Gang war beunruhigend vertraut.
    Johan klammerte sich an die Fensterbank. Spielte seine Phantasie ihm nur einen bösen Streich? Nach einigen Sekunden wich die Farbe aus seinem Gesicht. »Mein Gott! Er ähnelt … er erinnert an … Karl? «
    Die Türklingel wurde energisch gedrückt.
    Johan öffnete nicht. Sank auf einen Stuhl und starrte hinaus in die Dunkelheit. Dort draußen auf der Treppe stand tatsächlich sein älterer Bruder Karl, der bei dem Brand 1969 umgekommen war. Verstört fragte Johan sich, ob er zu viel getrunken hatte, ob er wohl gerade dabei war, verrückt zu werden.
    Endlich brach das Klingeln ab. Johan erhob sich unsicher. Irgendwodort draußen machte er undeutlich den Rücken des Mannes aus. Offenbar war er auf dem Weg zum Tor.
    Johan ging in die Diele, zog seine Jacke an, vergewisserte sich, dass der Mann außer Sicht war, und eilte hinaus.
    Quietschend öffnete sich die schmiedeeiserne Tür zur Familiengrabstätte. Das im Oktober ohnehin spärliche Tageslicht war heute besonders schnell verschwunden. Auf dem Weg hier herauf hatte Karl den grellen indigoblauen Farbton betrachtet, den der Himmel vor Einbruch der Dunkelheit gehabt hatte. Jetzt war es stockfinster und bitterkalt, der Boden steinhart gefroren.
    Er stapfte über starres, welkes Gras und blieb vor dem frischen Grab seines Vaters stehen. Verwundert musterte er den niedrigen, viereckigen Stein aus schwarzem Granit auf dem Nachbargrab. Die eingravierte Inschrift lautete: »Karl Fjeld, gestorben am 14.05.1969. Er ruhe in Frieden.« Auf dem Stein war ein weißer Engel angebracht, dessen Hände zum Gebet gefaltet waren. Bei diesem Anblick kniff Karl die Augen zusammen und dachte, dass er gerade jetzt in der Tat Fürsprache gebrauchen könnte.
    Er wischte das Laub von der Bank, die in der Einfriedung stand, und setzte sich. Sehr schnell hatten sich seine Angehörigen damit abgefunden, dass er bei dem Brand ums Leben gekommen sein sollte. Man hatte sterbliche Überreste gefunden, die man für seine hielt, und sie hier beigesetzt. Die Rechtsmedizin der sechziger Jahre, ohne DNA-Untersuchungen und dergleichen, hatte die Ermittler zu falschen Schlüssen geführt. Denn wer hätte es sonst sein sollen?
    Die Überreste waren in einem der Familie gehörenden Gebäude gefunden worden. Sie wussten, dass er sich dort drinnen aufgehalten hatte. Also kein Grund, Himmel und Erde in Bewegung zu setzen, um an einem anderen Ort nach ihm zu suchen. Sie waren der Meinung gewesen, sie hätten ihn bereits gefunden.
    Er sah sich um. Die Grabsteine verschwammen in der Dunkelheit. Sie ragten höher auf als zuvor, schienen näher an die Stelle heranzurücken, an der er wie ein heimgekehrter Sünder saß. Die uralte Tanne am Grab des Großvaters zeigte mit langen, bärtigen Zweigen auf ihn. Weit entfernt hörte Karl hin und wieder Autos vorbeifahren. Der Friedhof war still, die Geräusche wirkten gedämpft und alles Lebendige war entwichen.
    Bei der Kapelle hundert Meter weiter war es hell. Flüchtig nahm er auf der Anhöhe hinter sich einen Schatten wahr. Kein Lüftchen regte sich. Niemand sonst war bei den Gräbern zu entdecken.
    Trotzdem hatte er gesehen, dass sich da etwas bewegt hatte. Bäume? Menschen? Als er sich erhob, schienen ihn seine Füße aus eigenem Antrieb weiterzulenken. Gefrorenes Laub knisterte unter seinen Schuhen. Er kam zu der kleinen Anhöhe.
    Niemand war zu sehen. Nur Grabsteine mit unbekannten Namen. Karl drehte sich um, wollte schon zurückgehen, als sein Blick auf den kleinsten Stein fiel. Eine rote Granitplatte am Rand, ohne Bepflanzung oder
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