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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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Maßnahmen nicht an die Bevölkerung vermittelt werden, so verlieren die Regierenden, sowie prinzipiell die politischen Institutionen und das politische System insgesamt ihre demokratische Legitimationsgrundlage. « 12
    Während frühere Herrschaftssysteme die Bildung ihrer Untertanen fürchten mussten, so die These, stabilisiert die gebildete Bevölkerung die repräsentative Demokratie bundesdeutschen Zuschnitts. Ob dieser Befund tatsächlich zutrifft, darüber lässt sich anhand gegenwärtiger Entwicklungen und Debatten sicher streiten. Auf der einen Seite leben Staaten wie die USA seit langer Zeit erstaunlich gut mit einer vergleichsweise ungebildeten Durchschnittsbevölkerung. Und auf der anderen Seite wächst in der im Vergleich deutlich höher gebildeten Bevölkerung der Bundesrepublik gegenwärtig ein Unbehagen an den eingefahrenen Spielregeln der deutschen Parteiendemokratie. Ob eine wachsende Zahl aufgeklärter, beteiligungsbereiter und beteiligungswilliger Bürger die bestehende repräsentative Demokratie weiter unterstützen oder aber im Zeichen von Liquid Democracy und neuer Partizipationsformen transformieren wird, steht in den Sternen.
    Richtig ist: In Gesellschaften, die nicht vorrangig durch Religion zusammengehalten werden, ist Bildung eine der wichtigsten Zutaten für den sozialen Kitt. Man wird nicht sagen können, dass in der Geschichte der Menschheit vergleichsweise gebildete Gesellschaften generell friedlicher gewesen sind als ungebildete. Ein kleiner Blick auf die beiden großen deutschen Raubkriege des 20. Jahrhunderts belehrt unmissverständlich darüber, dass dem nicht so ist. Aber man kann zumindest feststellen, dass innerhalb einer komplexen Gesellschaft der soziale Zusammenhalt durch eine hohe Anzahl gebildeter Menschen oft größer ist, als wenn diese fehlen. Eine Regel, die auch durch Ausnahmen bestätigt wird.
    Für den sozialen Zusammenhalt ist nicht so sehr wichtig, wie viel jemand weiß, sondern mit welcher umsichtigen Haltung er durchs Leben geht. Hegels Einwurf, dass Bildung eine Praxis ist und kein Vorrat, ist eine zeitlose Weisheit. Man denke nur daran, dass eine mehr als hundertjährige preußisch-deutsche Schulbildungspolitik den deutschen Mittel- und Oberschichten im Dritten Reich zwar ein vielfältiges humanistisches Bildungswissen eingetrichtert hatte, aber ganz offensichtlich viel zu selten eine aufrecht humanitäre Haltung. Deutlicher konnte sich das Scheitern der humanistischen Schulbildung nicht manifestieren. Wissen, was Humanität ist, und diese zu leben, sind zwei verschiedene Dinge.
    Das dritte Humboldtsche Erbe ist die Frage nach der Rolle der Schulen bei der Entwicklung der Schülerpersönlichkeit. Einerseits schrieben die Lehrpläne der Gymnasien Humboldts Gedanken der von praktischen Zwängen weitgehend freien Bildung für fast zwei Jahrhunderte fest. Andererseits aber stellten sie zugleich das Wissen, das Auswendiglernen und Abfragen weit über die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler. Von Humboldts Bildungsidee blieb damit genau die Hälfte übrig – eine Trennung, die etwas Untrennbares zerschnitt und damit weitgehend sinnlos machte. Die Folge: Aus der Bildung der Schülerpersönlichkeit wurde im deutschen Schulsystem Abrufbarkeit von Wissen auf Zeit.
    Vernachlässigt wurde, dass nur eine gelebte Bildung tatsächlich Bildung ist. In jedem Fall ist sie mehr als die Summe ihrer Zutaten, bestehend aus angelerntem und großväterlich ausgewähltem Wissensstoff, angereichert mit moralischen Maximen und Reflexionen. In diesem Sinne ist Bildung auch nicht durch Tests messbar oder gar ablesbar an Manieren. Wer in Gesellschaft Goethe zitiert, macht zwar von seinem Gedächtnis Gebrauch, verrät aber noch nicht zwingend Bildung.
    Selbstverständlich ist ein großer Vorrat an Wissen für jede Form von Bildung von Vorteil. Doch bloßes Kennen oder Wissen verhält sich zu echter Bildung wie » Wissen, wie es geht « zum » Können « . Ein wichtiger Unterschied! Denn wissen, wie man Fußball spielt, und einen Fallrückzieher zu beherrschen, ist nicht das Gleiche. » Der Eunuch « , pflegte mein Vater mir bei seinen Nachhilfestunden zu sagen, » weiß auch, wie es geht – er kann es aber trotzdem nicht. «
    In erster Linie bedeutet Bildung, sehr viele verschiedene Dinge produktiv miteinander verbinden zu können und damit vielfältige eigene Gedanken zu entwickeln. Der Gebildete prägt einen eigenen Stil des Denkens aus und verleiht seinem Wissen vielfältige
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