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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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dass ihre Untertanen eine praktische Ausbildung in bestimmten Fähigkeiten und Fertigkeiten erhalten sollten. Aber die Betonung lag immer auf einem völlig konkreten Verwendungszweck. Natürlich musste man Soldaten ausbilden, Handwerker, Kaufleute und Staatsdiener, aber warum in Gottes Namen sollte man sie – bilden? Dass jede Ausbildung hinter dem » allgemeinen Zweck der Menschenbildung « zurückstehen sollte, wie der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746 –1827) forderte, erschien den Herrschenden in ganz Europa als eine Antwort auf eine nie gestellte Frage. Und wenn der Kulturphilosoph Herder (1744 –1803) dem allgemeinen Lernen und Sich-Bilden einen Vorrang vor jeder Berufsausbildung zusprach: » Von dem, was wir als Menschen wissen und als Jünglinge gelernt haben, kommt unsere schönste Bildung und Brauchbarkeit für uns selbst her, noch ohne zu ängstliche Rücksicht, was der Staat aus uns machen wolle « , 8 so schüttelte die herrschende Klasse darüber zumeist nur den Kopf.
    Humboldts Traum
    Am 29. April 1810 schmiss der Minister die Brocken hin. Völlig entnervt, düpiert und bedient reichte er sein Rücktrittsgesuch ein. Nur vierzehn Monate hatte es der feinfühlige Humanist in der so drögen wie rückständigen preußischen Regierung ausgehalten. Nun freute er sich, dem provinziellen Königsberg den Rücken zu kehren und als Gesandter nach Wien zu gehen. Sein großes Reformwerk, das er im Schweinsgalopp hatte entwickeln müssen, aber wurde von mediokren Nachfolgern zerstückelt, missverstanden und verfälscht bis zur Unkenntlichkeit.
    Heute ist der Minister der » Sektion für Cultus und Unterricht « eine Ikone der deutschen Geistesgeschichte und der Namenspatron einer Idee, die als » Humboldtsches Bildungsideal « in die Gegenwart fortlebt, von Universitätsrektoren beschworen und auf Festreden gerühmt. Was aber wollte Wilhelm von Humboldt (1767 –1835) wirklich?
    Einundvierzig Jahre alt war der Adelsspross, der von renommierten Hauslehrern erzogen worden war, als ihm der preußische Staat im Januar 1809 ein Angebot machte, das er nicht ablehnen konnte. Humboldt sollte Wissenschaftsminister werden, ein Amt, das es bis dahin in Preußen gar nicht gegeben hatte. Urheber der Idee war der Freiherr vom Stein, und die Zeiten im Königreich waren bewegt. Zwei Jahre zuvor hatte Preußen nahezu die Hälfte seines Staatsgebiets verloren als Folge der Niederlagen im Krieg gegen Napoleon. Fast über Nacht war den Herrschenden in Berlin klar geworden, dass Preußen nicht mehr konkurrenzfähig gegenüber Frankreich war – und zwar in allen Belangen. Der Staat brauchte eine Militärreform, die unter anderem die allgemeine Wehrpflicht einführte, eine Agrarreform, die Leibeigene in freie Bauern verwandeln und so die Produktivität erhöhen sollte, eine Städtereform, die mithilfe einer kommunalen Stadtverwaltung die Städte selbstständiger machte, eine Wirtschaftsreform, die die mittelalterlichen Zünfte abschaffte, und eine Verwaltungsreform, die den Bürgern verstärkt Zutritt zu öffentlichen Ämtern verschaffte. Der letzte Schritt dieser Stein-Hardenberg’schen Reformen war das Konzept, das Bildungssystem zu erneuern.
    Zu Beginn dieser Reformen weilt Humboldt als preußischer Gesandter im diplomatisch ziemlich unwichtigen Rom. Für den humanistisch gebildeten Schöngeist, der schon als Kind fließend Latein, Griechisch und Französisch sprach, allerdings ein Traumjob. Humboldt liebt den Austausch mit den Intellektuellen und Künstlern, die in Rom verkehren, und hält gemeinsam mit seiner Frau Hof in einem alten römischen Palast. Zwar hat er sich selbst in leichtfertiger Weise für höhere Aufgaben in Preußen ins Gespräch gebracht, doch was nun dort auf ihn zukommt, verspricht viel Arbeit und viel Ärger. Humboldt lehnt das Angebot als Bildungsminister ab – doch der König lässt keine Ausflucht zu.
    In Königsberg bietet sich eine Chance, wie man sie nur einmal im Leben erhält. Wer darf schon im Eiltempo ein ganzes System verändern und etwas völlig Neues schaffen? Die erste Demütigung, die Humboldt dabei erfährt, ist der Zuschnitt seines Ressorts. Sein Ministerium ist nicht autonom und gleichrangig zu den anderen, sondern untersteht als Sektion dem Innenministerium. Die seltsame deutsche Tradition, dass Bildungsminister eigentlich nichts zu sagen haben, nimmt bereits mit der Gründung des Ministeriums ihren Anfang. Was auch immer Humboldt sich an neuen Ideen wird einfallen
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