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Anna, die Schule und der liebe Gott

Anna, die Schule und der liebe Gott

Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott
Autoren: Richard David Precht
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schließlich ist die ideologische Front. Sie verläuft zwischen denen, die unser Bildungssystem als Zulieferungsindustrie für die wirtschaftlichen Bedürfnisse unseres Landes sehen, und jenen, die jede kapitalismuskonforme Zweckbestimmtheit auf dem Bildungssektor konsequent ablehnen.
    Dabei sind viele Kombinationen denkbar. Der links wählende Bildungsbürger zum Beispiel, der Bildung nicht als Ausbildung für die Wirtschaft verstanden sehen möchte, aber zugleich sehr darauf bedacht ist, dass sein Kind die Schulklasse nicht mit vielen bildungsfernen Mitschülern teilen muss; der Lehrer, der seine schwerwiegendsten Probleme nicht mit Bildungskritikern hat, sondern mit seinen Kollegen; der liberale Unternehmer, der Bildung selbstverständlich zweckgebunden als Ausbildung versteht, aber zugleich ein großes Herz für die Kinder der sozial Schwachen hat und ihnen eine echte Chance geben möchte.
    Es wird in diesem Buch gewiss nicht darum gehen, alte, oft lieb gewordene Freund-Feind-Linien zu verstärken. Es möchte auch keine Ideologie bedienen innerhalb eines etablierten Rechts-Links-Schemas. Die Frage nach der Verbesserung unseres Schul- und Bildungssystems ist keine Frage, die sich au f W eltanschauungen wie » liberal « , » konservativ « oder » sozialistisch « reduzieren ließe. Alle diese löchrigen Gefäße reichen nicht aus, den Inhalt zu transportieren, um den es hier geht. Natürlich wird es sich nicht verhindern lassen, dass der eine oder andere Leser dieses Buch aus seinem festgefügten weltanschaulichen Raster heraus beurteilen wird. Doch sollte es gelingen, die veralteten Denkmuster, die die Bildungsfrage so lange gefangen genommen und missbraucht haben, für manch einen aufzubrechen, so wäre ein wichtiges Anliegen erfüllt.
    Das größere Ziel aber ist, dass Anna schon in zwei oder drei Jahrzehnten kopfschüttelnd darüber staunen wird, auf welche Weise in Deutschland im Jahr 2013 Kinder unterrichtet wurden. Etwa so, wie wir heute darüber staunen, dass Frauen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in fast ganz Westeuropa kein Wahlrecht hatten oder noch Anfang der sechziger Jahre in Deutschland selbstständig kein Konto eröffnen und ohne die Unterschrift ihres Ehemanns keinen Mietvertrag unterschreiben durften. Oder wie wir heute nicht mehr nachvollziehen können, wie es in den siebziger Jahren in katholischen Erziehungsheimen vor sich ging. Oder dass Lehrer an öffentlichen Schulen in der Klasse durchaus noch zuschlugen und ihre Schüler heftig an den Ohren zogen und dass es in Autos keine Sicherheitsgurte gab.
    Nicht zuletzt möchte ich zeigen, dass eine neue Form der Bildung und des Bildungssystems ohne Zweifel zugleich eine andere Gesellschaft erzeugen wird. Denn die Dilemmata unserer Bildungswirklichkeit sind nur auflösbar in einer Gesellschaft, bei der die Stellschrauben anders eingestellt werden und eingestellt sind. In diesem Sinne ist der Umbau unseres Bildungssystems der vielleicht wichtigste Teil einer großen sozialen Transformation, die mit den zivilbürgerlichen Protesten und der Forderung nach mehr Demokratie und aktiver Beteiligung bereits begonnen hat und die unsere Gesellschaft unzweifelhaft verändern und hoffentlich verbessern wird.
    Richard David Precht
    Köln, im Februar 2013
    1 Siehe: www.ted.com/talks/ken_robinson_says_schools_kill_creativity.html
    2 Brodkorb (2012)
    3 Quenzel/Hurrelmann (2010), S. 23
    4 Hopmann/Brinek/Retzl (2007), S. 14 f.
    5 Vgl. Stefan Schultz: Urbanes Leben der Zukunft. » Die Stadt beobachtet mich aus Tausenden Augen « . Ein Interview mit IT -Visionär Adam Greenfield. Siehe: www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/adam-greenfield-im-interview-ueber-smart-cities-augmented-reality-a-828442.html
    6 Khan (2012), S. 7 (Übersetzung RDP )

Die Bildungskatastrophe

Was ist Bildung?
    Bildung ist das, was zurückbleibt,
    wenn man das Gelernte wieder vergessen hat.
    Georg Kerschensteiner
    Das deutscheste Wort
    Es gibt Bildungssysteme, Bildungsinstitute, Bildungseinrichtungen, Bildungsminister, Bildungsreisen, Bildungsmiseren, Bildungskatastrophen und neuerdings sogar eine Bildungsoffensive, eine Bildungsrepublik, Bildungsfonds, Bildungskredite, Bildungsgutscheine und Bildungsschecks. Aber was ist Bildung? Und wozu und zu welchem Ende bilden wir, frei nach Schiller, unsere Kinder?
    Bildung ist Alles, was man wissen muss, betitelte einst der Anglist Dietrich Schwanitz einen Bestseller. Dass die Naturwissenschaften offensichtlich nicht dazugehörten, motivierte den
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