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Anidas Prophezeiung

Anidas Prophezeiung

Titel: Anidas Prophezeiung
Autoren: Susanne Gerdom
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aufgerissenen Augen fasziniert an, zum ersten Mal in ihrem Leben sprachlos.
    Die Oberste Weiße Hexe bot einen wahrhaft imponierenden Anblick. Hoch gewachsen und schlank wie eine Gerte stand sie neben ihrem Bruder, den sie um Haupteslänge überragte, und musterte die Kinder aus tief liegenden topasfarbenen Augen. Die unordentlich geflochtene Haarmähne, die ihr altersloses Gesicht umrahmte, war dreifarbig wie das Haar ihrer jüngsten Nichte; aber wo Idas Haar rot, blond und schwarz war, war das ihrer Tante weiß, schwarz und von einem schimmernden Silberton, der in dem fahlen Licht des Herbsttages von innen zu leuchten schien. Endlich hatte sie ihre Inspektion beendet und streckte den beiden Mädchen mit einem Lächeln, das ihr Gesicht in unzählige Falten zerspringen ließ, beide Hände hin. Amali zierte sich, aber Ida griff ohne zu zögern zu und erwiderte den festen Druck der schmalen, kräftigen Hand.
    »Du bist Amali, und du musst Anida sein«, sagte die Hexe freundlich mit einer Stimme, die wie eine ferne dunkle Glocke klang. Ida nickte, immer noch um Worte verlegen. Amali kicherte albern. Ylenia ließ die beiden los und wandte sich mit fragender Miene an ihren Bruder: »Wo ist der Junge?«
    »Hier bin ich, Tante Ylenia«, erklang es mit einem atemlosen Kieksen dicht neben ihrer Schulter. Albuin stand da, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und warf seiner Familie einen finster herausfordernden Blick zu. ›Wagt es nur, eine dumme Bemerkung zu machen‹, schien er zu sagen. Ida grinste und verkniff sich jeden Kommentar, während Ylenia den Jungen genauso eingehend musterte wie zuvor ihre Nichten.
    »Ich freue mich, euch kennen zu lernen«, sagte sie schließlich und drehte sich schwungvoll um, dass ihre helle, schlichte Tunika unter dem dunklen Wollumhang aufblitzte. »Komm, Bruder, lass uns hineingehen.« Sie legte Joris eine Hand auf den Arm und lächelte ihn liebevoll an, während sie ihn sanft auf die Tür zuschob. »Du bist schwer geworden, mein Guter. Ysabet, du gibst wohl nicht richtig auf ihn Acht.«
    Der Protest der beiden Erwachsenen verklang, als sie das Haus betraten. Die Kinder blickten sich stumm und freudig erregt an. Dieser Besuch versprach wirklich interessant zu werden.

    Ysabet hatte dafür gesorgt, dass zur Feier des Tages ein wahres Festmahl aufgefahren wurde. Die sich unter den feinsten Speisen biegende Tafel erweichte sogar des Hausherrn grimmige Miene, und so war der Abend der Ankunft Ylenias von seltener Harmonie, da noch nicht einmal die Kinder sich wie sonst zankten, sondern gebannt den Erwachsenen lauschten, die schmunzelnd alte Erinnerungen austauschten.
    Ritter Simon saß schweigend am Ende der Tafel, hatte sich eine üppige Auswahl der erlesensten Bissen auf seinen Teller geladen und sprach eifrig und ohne im Mindesten der Mäßigung zu gedenken, die die Regeln seines Ordens ihm auferlegten, dem guten roten Wein zu. Sein ausdrucksloser Blick glitt immer wieder zu Lord Joris und seinen Schwestern hinüber. Ida, die ihn zwischendurch einmal unauffällig beobachtete, sah einen winzigen gelben Funken des Neides unter seinen schweren Lidern glimmen.
    »Ah, nun wundert es mich nicht, dass du derart füllig geworden bist, Bruder«, seufzte Ylenia nach geraumer Zeit und lächelte zu ihrer Schwester hinüber, die mit ihrem erhitzten Gesicht und den temperamentvoll blitzenden Augen um Jahre jünger und fröhlicher erschien, als die Kinder an ihrer gestrengen Tante Ysabet sonst gewohnt waren. »Du bist wirklich eine Gastgeberin, die den Hierarchen selbst bewirten könnte, Sabet. Ich habe wohl seit Jahren nicht mehr so gut gespeist.«
    Ysabet errötete und freute sich wie ein junges Mädchen über das herzliche Lob. »Es ist schön, wenn jemand es endlich einmal zu schätzen weiß«, erwiderte sie mit einem vernichtenden Seitenblick auf ihre Familie. »Ich höre hier nur äußerst selten ein Lob, Ylen.« Joris und seine Kinder sanken etwas tiefer in die Sitze und blickten beschämt auf ihre Teller nieder. Es stimmte, die Kochkünste Ysabets wurden im Allgemeinen als selbstverständlich hingenommen, und es wurde eher noch daran herumgemäkelt, wenn einmal nicht das Lieblingsessen auf dem Tisch stand.
    Ylenia erlöste sie aus ihrer peinlichen Lage. Sie schob ihren Sessel zurück und erhob sich zu ihrer imponierenden Länge. »Ich möchte mich jetzt zurückziehen, Joris. Es war ein langer Ritt, und ich muss noch meine Rituale durchführen. Morgen würde ich mich dann gerne mit den Kindern
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