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Anidas Prophezeiung

Anidas Prophezeiung

Titel: Anidas Prophezeiung
Autoren: Susanne Gerdom
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höhnisch und spuckte aus. »Ich hab dem Obristen ja auch ordentlich die Handfläche versilbert«, sagte er und ließ sein Pferd antraben. »Die Protektoren sind schlecht besoldet und immer dankbar für eine kleine Unterstützung. Dafür fragen sie nicht so genau nach, ob man wirklich berechtigt ist, sich auf dieser Straße aufzuhalten.«
    Das blieb bis zum Abend das Einzige, worüber sie miteinander sprachen. Sie übernachteten notgedrungen im Freien, in einem Gehölz, das ihnen ein wenig Schutz vor neugierigen Blicken bot, und in dessen Nähe ein kleiner, klarer Bach munter glucksend über runde Kiesel hüpfte. Ida versorgte die Pferde, während Marten eine Feuerstelle einrichtete und sich um ihr Abendessen kümmerte. Ida hatte entschieden, dass es zwar ihrem Stolz, aber weniger ihrer Kondition nützte, wenn sie die gemeinsamen Mahlzeiten verweigerte, und löffelte nun stumm die köstliche Brühe mit den saftigen Fischstücken, die Marten zubereitet hatte. Wie unerfreulich auch sonst die Umstände dieser Unternehmung sein mochten, kulinarisch gesehen hatte sie sich bisher außergewöhnlich erfreulich gestaltet.
    Nach dem Essen und nachdem sie ihre Näpfe im Bach ausgespült hatten, rollte Ida sich neben dem Feuer in ihre Decke und bettete den Kopf auf dem Sack mit ihren Kleidern. Sie hörte, wie Marten sich auf der anderen Seite sein Lager zurechtmachte und zum Schlafen niederlegte. Es blieb eine Weile ruhig, dann sagte er mit seiner tiefen, immer ein wenig heiseren Stimme: »Es wird sicher kalt, Prinzessin. Meinst du, du könntest deinen Widerwillen für diese Nacht noch einmal überwinden und auf diese Seite des Feuers kommen?«
    Ida antwortete nicht. Nach einem Moment des Schweigens hörte sie ihn seufzen. »Was ist passiert, Ida? Habe ich etwas gesagt oder getan, was dich verletzt hat? Ich hatte gerade das Gefühl, dass wir uns ein wenig besser verstehen und jetzt ...«
    »Bitte, Marten, lass uns schlafen«, unterbrach Ida ihn schroff. »Ich hege nicht den Ehrgeiz, mich mit einem Verbrecher gut zu verstehen. Ich will nur meinen Bruder auftreiben und endlich wieder nach Hause.« Sie hörte, wie Marten scharf die Luft einsog. Danach herrschte Ruhe.
    Der Morgen war neblig und feucht. Ida glaubte, jeden einzelnen ihrer Knochen kalt und spröde im Leib zu spüren. Steif und ungelenk bog sie ihre klammen Finger um den wärmenden Becher mit heißem Tee und ließ sich, dicht am Feuer stehend, langsam von außen und innen auftauen. Sie überließ es Marten, das Lager abzubrechen und die Pferde zu satteln, und schwang sich dann ohne ein Wort in den Sattel.
    Gegen Mittag erreichten sie erstmals dichter besiedeltes Gebiet. Kleine, saubere Bauernhöfe wechselten sich ab mit winzigen Dörfern, die aus kaum mehr als fünf oder sechs strohgedeckten Häusern um einen Brunnen bestanden.
    Marten wandte sich im Sattel um und gab Ida einen knappen Wink, zu ihm aufzuschließen. »Wir werden in etwa einer Stunde die erste größere Ortschaft erreichen. Richte dich nach mir und verhalte dich nicht zu auffällig. Und, vor allem anderen, vergiss nicht, dass du ein Mann bist: Falls wir Frauen begegnen sollten, sieh auf keinen Fall hin!«
    Ida starrte ihn an. Er erwiderte ihren Blick und fuhr eindringlich fort: »Merk dir das, Ida, es ist wirklich gefährlich. Wenn ein Mann das Gefühl hat, dass du seine Frau ungebührlich ansiehst, kann er dich sofort töten, und niemand würde ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Wahrscheinlich wird nichts passieren, wenn es sich um eine Frau der unteren Kaste handelt, die ohne Augenbinde herumläuft, aber bei Frauen aus den oberen Kasten riskierst du mit einem unvorsichtigen Blick dein Leben.«
    Ida nickte stumm und ein wenig zweifelnd. Das klang zwar wie ein albernes Märchen, aber sie tat im Zweifelsfall besser daran, sich an das zu halten, was Marten sagte, zumindest bis sie etwas mehr über die Sitten des Landes wusste.

    Martens Warnung erwies sich vorerst als überflüssig. Sie ritten über die holprigen Wege des Ortes, argwöhnisch beobachtet von den Bewohnern, und sahen nicht eine einzige Frau auf der Straße. Da waren Männer jeden Alters, die ihren Beschäftigungen nachgingen oder einfach dasaßen und schwatzten, und es gab Scharen von barfüßigen Kindern beiderlei Geschlechts, die ihnen nachliefen und sie mit schrillen Stimmen anbettelten, aber nicht eine einzige erwachsene Frau. Die Häuser des Ortes waren allesamt von hohen, abweisenden Mauern umgeben. Ida konnte nur erahnen, wie es
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