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Angst in der 9a

Titel: Angst in der 9a
Autoren: Stefan Wolf
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und rannte weiter.
    Komisch, sinnierte er. Sie weiß, wer ich bin. Denn Unterricht hatte er bei ihr noch nie gehabt. Außerdem gehörte sie zu den externen Lehrern, die in der nahen Stadt wohnten. Freilich – wer an dieser Schule kannte Tarzan nicht! Eher gab es wohl einige, die den Namen des Direktors nicht wussten.
    In Wirklichkeit hieß er Peter Carsten. Den Spitznamen Tarzan hatte er sich mit seiner Sportlichkeit verdient, auch weil er am Kletterseil mit affenartiger Geschwindigkeit hochturnen konnte und letztlich wohl, weil er dunkle Locken und eine so braune Haut hatte, als käme er gerade von einer Afrika-Reise. Er hatte blaue Augen. Sein Glanzfach war Mathe, wo er eine Eins nach der anderen schrieb. Auch in den anderen Fächern bestand kein Anlass zur Besorgnis.
    Dass er auf dieser tollen Internatsschule sein durfte, die bekannt war für ihre hohen Anforderungen, empfand er als glückliche Fügung. Vor allem, weil er hier seine besten Freunde hatte, die drei vom TKKG: Klößchen, Karl undGaby. Mit ihm, Tarzan, hatten sie sich zu einer Bande vereint, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt – die TKKG-Bande. Die Bezeichnung leitete sich ab von den Anfangsbuchstaben der Namen.
    Tarzan war Halbwaise, sein Vater – ein Diplom-Ingenieur – vor Jahren einem Verkehrsunfall erlegen. Die Mutter, mit der Tarzan sich ausgezeichnet verstand, wohnte leider viele Bahnstunden entfernt. Seit sie Witwe war, arbeitete sie als Buchhalterin und hatte viel Mühe, das teure Schulgeld für ihren Sohn aufzubringen. Tarzan wusste das und dankte es ihr, indem er sich in der Schule bemühte – ohne freilich ein Streber zu sein.
    Jetzt setzte er zum Endspurt an. Das änderte allerdings nicht, dass er vier oder fünf Minuten zu spät kam.
    Weshalb sie wohl geheult hatte? Wegen ihrer scheußlichen Klasse, der 9a, die sich einen Sport daraus zu machen schien, die Mübo zu quälen? Oder war es privater Kummer? Oder ein Weinkrampf, wie ihn Frauen manchmal ohne ersichtlichen Grund kriegen, wenn sie nervös und überarbeitet sind?
    Werde mal mit den andern darüber reden, nahm Tarzan sich vor. Vielleicht weiß Klößchen was. Denn der hatte seit voriger Woche Nachhilfestunden bei der Mübo, wegen seiner katastrophalen Leistungen in Englisch und Französisch. Dabei mangelte es ihm nicht etwa an Grips. Aber er war und blieb nun mal das schlimmste Faultier der Schule.
    Tarzan riss die Tür zu seiner Klasse, der 9b, auf.
    Mit einem Blick, den er wie eine Nadel auf der Brust fühlte, wurde er von der Lehrerin empfangen.
    »Carsten, wo kommst du jetzt her?«
    Sie hatte eine schrille Stimme.
    »Vom Sportplatz, Frau Doktor. Ich bitte um Entschuldigung, aber ich hatte dort meine Uhr vergessen. Gemerkt habe ich’s eben erst.«
    »Das ist keine Entschuldigung. Ich beginne den Unterricht pünktlich und du hast pünktlich hier zu sein.«
    Er nickte und ging zu seinem Platz in der fünften Reihe. Er saß neben Klößchen.
    »Hast du mich verstanden?«, rief Frau Dr. Frederike Raul, bei der sie neuerdings Englisch hatten – leider. »Jedes Wort«, sagte Tarzan.
    Einige Schüler sahen sich nach ihm um und grinsten. Aber den meisten war nicht nach Spaß zumute, vielmehr klopfte ihnen das Herz in der Hose. Denn die Rückgabe der letzten Klassenarbeit erfolgte in dieser Stunde; und die Raul hatte schon angekündigt, wie schlecht das Ergebnis ausgefallen sei – wieder mal. Was freilich weniger an der Begriffsstutzigkeit der 9b lag, sondern mehr an der eigenartigen Benotung dieser Lehrerin.
    Während Tarzan die Frau nachdenklich betrachtete, dachte er: Irgendwie sieht sie aus wie das genaue Gegenteil von der Mübo.
    Die Einschätzung traf zu. Frederike Raul war eine ziemlich unweibliche Person, die ihre knochige Gestalt durch ungefällige Kleidung noch unschöner machte. Für ihr dunkles, immer etwas fettiges Haar tat sie offenbar gar nichts. Das wuchs einfach nur – aber in Strähnen. Ihrem Pferdegesicht stand die schwarze Hornbrille überhaupt nicht. Und auf der Oberlippe lag immer ein dunkler Schatten, als würde demnächst ein Schnurrbart entstehen.
    Alles in allem konnte man an ihr den Mut zur Hässlichkeit bewundern. Aber das hätte kein einziger Schüler ihr verübelt. Denn Schönheit ist nun mal ein Geschenk der Natur und das erhält nicht jeder.
     
    Was die Raul so unbeliebt machte, war ihre Ungerechtigkeit, ihre zänkische Art, die Lieblosigkeit, mit der sie den Unterricht abspulte, und ihre Gleichgültigkeit den Schülern gegenüber. Wer
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