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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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wollten.
    »Nein, ich glaube nicht, dass es etwas mit einem Mädchen zu tun hat«, sagte ich und schaute Claire nun direkt an. Das ist die Kehrseite des Glücks, alles liegt wie ein offenes Buch auf dem Tisch. Würde ich ihrem Blick noch länger ausweichen, wüsste sie sehr genau, dass da etwas war – mit einem Mädchen oder etwas noch Schlimmeres.
    »Ich glaube eher, dass es mit der Schule zusammenhängt«, sagte ich. »Er hat gerade die Klausurenwoche hinter sich. Ich glaube, er ist einfach müde. Meiner Meinung nach hat er doch unterschätzt, wie schwer die Prüfungen in der Zehnten sind.«
    Klang das glaubwürdig? Und vor allem: War mein Blickauch glaubwürdig? Claires Augen schossen hin und her, von meinem rechten zu meinem linken Auge. Dann hob sie eine Hand und befühlte meinen Hemdkragen; als würde damit etwas nicht stimmen, als müsse sie jetzt noch meine Kleidung ordnen, damit ich mich im Restaurant nicht blamierte.
    Sie lächelte und legte mir die Hand mit gespreizten Fingern flach auf die Brust, zwei Fingerspitzen spürte ich auf der nackten Haut, an der Stelle, wo der oberste Knopf meines Hemdes geöffnet war.
    »Vielleicht ist es das«, sagte sie. »Ich finde nur, wir müssen beide aufpassen, dass er uns irgendwann vielleicht gar nichts mehr erzählt. Ich meine, dass wir uns nicht einfach daran gewöhnen dürfen.«
    »Nein, klar. Aber es ist nun einmal so, dass man in seinem Alter auch ein gewisses Recht auf Geheimnisse hat. Wir müssen nicht alles über ihn wissen, sonst macht er womöglich noch ganz dicht.«
    Ich sah Claire in die Augen. Meine Frau, dachte ich in diesem Moment. Weshalb sollte ich sie nicht meine Frau nennen? Meine Frau. Ich legte ihr eine Hand um die Taille und zog sie an mich. Auch wenn es nur für die Dauer dieses Abends war. Meine Frau und ich, sagte ich in Gedanken. Meine Frau und ich hätten gerne die Weinkarte.
    »Worüber lächelst du?«, fragte Claire. Fragte meine Frau. Ich schaute auf unsere Biergläser. Meins war leer, ihr Glas noch drei viertel voll. Wie immer. Meine Frau trank immer langsamer als ich, auch deshalb liebte ich sie, am heutigen Abend vielleicht noch mehr als an anderen.
    »Nichts«, sagte ich. »Ich habe … ich habe an uns gedacht.«
    Es ging sehr schnell: In dem einen Moment sah ich Claire, sah ich meine Frau noch an, wahrscheinlich mit einem liebevollen Blick, oder jedenfalls mit einem erfreuten Gesichtsausdruck, und im nächsten Moment merkte ich, wie sich ein feuchter Film über meine Augen legte.
    Weil sie unter gar keinen Umständen etwas bemerken durfte, vergrub ich mein Gesicht in ihrem Haar. Ich drückte sie noch fester an mich und sog den Geruch ein von: Shampoo. Shampoo und noch etwas anderem, etwas Warmem – der Geruch von Glück, dachte ich.
    Wie hätte dieser Abend ausgesehen, wenn ich, das war erst eine Stunde her, einfach unten gewartet hätte, bis es Zeit zum Aufbruch gewesen wäre, anstatt nach oben zu gehen, in Michels Zimmer?
    Wie hätte der Rest unseres Lebens dann ausgesehen?
    Hätte der Geruch, den ich jetzt im Haar meiner Frau wahrnahm, einfach nur nach Glück gerochen? Wäre er dann nicht, wie jetzt, nur noch eine Erinnerung an eine weit zurückliegende Vergangenheit – der Geruch von etwas, das man von der einen zur anderen Sekunde verlieren konnte?

[Menü]
    3
    »Michel?«
    Ich stand in der geöffneten Tür seines Zimmers. Er war nicht da. Okay, ich bin ehrlich: Ich wusste, dass er nicht da war. Er war im Garten und flickte den Hinterreifen seines Fahrrads.
    Ich tat so, als hätte ich das nicht mitbekommen. Ich spielte, ich würde meinen, er sei einfach in seinem Zimmer.
    »Michel?« Ich klopfte an die halb geöffnete Tür. Claire war im Schlafzimmer und suchte irgendwas im Kleiderschrank. In einer knappen Stunde mussten wir los zum Restaurant. Sie zögerte noch immer bei der Wahl zwischen dem schwarzen Rock mit den schwarzen Stiefeln oder der schwarzen Hose und den Sneakern von DKNY. »Welche Ohrringe?«, würde sie mich gleich fragen. »Diese oder die hier?« Ich würde ihr antworten, dass die kleinsten ihr am besten stünden, sowohl zum Rock als auch zur Hose.
    Inzwischen befand ich mich in Michels Zimmer. Ich sah sofort, wonach ich suchte.
    Ich möchte wirklich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich so etwas vorher noch nie getan habe. Wenn Michel am Chatten war, dann drehte ich mich immer ein wenig zur Seite, damit ich nicht auf dem Bildschirm mitlesen konnte. Er sollte an meiner Körperhaltung ablesen können, dass ich
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