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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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falsche Kleid trägt, würden sich noch immer alle Männer nach ihr umdrehen, wenn sie an ihnen vorbeigeht. Ihr steht doch sowieso alles. Was will sie denn?
    Das hier war keine In-Kneipe, hier verkehrten keine trendigen Leute – uncool, würde Michel sagen. Die Anzahl der Normalos überwog deutlich. Sie waren weder besonders alt noch jung, eigentlich bunt gemischt, in erster Instanz aber normal. So müssten alle Kneipen sein.
    Es war ziemlich viel los. Wir standen dicht aneinandergedrängt, bei der Tür zur Herrentoilette. In der einen Hand hielt Claire ein Bierglas, mit der anderen Hand umfasste sie sanft mein Handgelenk.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie, »aber in der letzten Zeit habe ich das Gefühl, dass Michel sich irgendwie seltsam verhält. Vielleicht nicht seltsam, aber doch anders als sonst. Distanziert. Findest du nicht auch?«
    Michel ist unser Sohn. Nächste Woche wird er sechzehn. Nein, sonst haben wir keine Kinder. Wir hatten nicht vorgehabt, nur ein Kind in die Welt zu setzen, aber irgendwann war es für ein weiteres einfach zu spät.
    »Ja?«, sagte ich. »Gut möglich.«
    Ich durfte Claire nicht ansehen, wir kannten uns zu gut, meine Augen würden mich verraten. Deshalb tat ich so, als würde ich mich in der Kneipe umschauen, oder als wäre ich gerade besonders an dem Schauspiel der sich lebhaft unterhaltenden normalen Leute interessiert. Ich war froh, dassich darauf bestanden hatte, uns erst im Restaurant mit den Lohmans zu treffen; ich stellte mir vor, wie Serge durch die Schwingtüren in die Kneipe eintrat, mit einem Grinsen, das die Leute dazu anspornen sollte, doch bitte mit dem fortzufahren, womit sie gerade beschäftigt waren, und ihn nicht weiter zu beachten.
    »Hat er dir nichts erzählt?«, fragte Claire. »Ich meine nur, ihr unterhaltet euch doch über ganz andere Sachen als Michel und ich. Vielleicht ist es was mit einem Mädchen? Etwas, das er dir leichter erzählen kann?«
    Wir mussten einen Schritt zur Seite treten, weil die Tür der Herrentoilette aufging, deswegen rückten wir etwas näher zusammen. Ich spürte, wie Claires und mein Bierglas aneinanderstießen.
    »Hat es etwas mit einem Mädchen zu tun?«, fragte sie erneut.
    Mein Gott, wäre es nur so, konnte ich mir nicht verkneifen zu denken. Etwas mit einem Mädchen … ach, das wäre wunderbar, so wunder-wunderbar normal, das übliche Pubertätsgehabe. »Darf Chantal/Merel/Roos heute hier übernachten?« »Wissen das denn ihre Eltern? Wenn Chantals/Merels/Roos’ Eltern das in Ordnung finden, dann ist es für uns auch okay. Wenn du nur daran denkst … wenn du gut aufpasst beim … na, du weißt schon, das brauche ich dir wahrscheinlich gar nicht mehr zu erzählen. Oder? Michel?«
    Es kamen oft genug Mädchen zu uns, eins schöner als das andere, sie hockten auf dem Sofa oder am Küchentisch und grüßten mich höflich, wenn ich nach Hause kam. »Guten Tag, Herr Lohman.« »Du brauchst mich nicht zu siezen, ich heiße Paul.« Also sagten sie dann ein einziges Mal »Paul«, aber ein paar Tage später hieß es doch einfach wieder »Sie« und »Herr Lohman«.
    Manchmal hatte ich eins der Mädchen am Telefon. Während ich nachfragte, ob ich Michel etwas ausrichten sollte,schloss ich die Augen und versuchte die Mädchenstimme (sie nannten selten ihren Namen, sondern fielen gleich mit der Tür ins Haus: »Ist Michel da?«) am anderen Ende der Leitung mit dem dazugehörigen Gesicht in Verbindung zu bringen. »Nein, ist wirklich nicht nötig, Herr Lohman. Es ist nur, weil er sein Handy ausgeschaltet hat, und da habe ich es mal unter dieser Nummer versucht.«
    Einmal nur hatte ich, als ich ins Zimmer kam, das Gefühl, ich hätte sie bei irgendetwas erwischt. Michel und Chantal/Merel/Roos; vielleicht schauten sie sich nicht ganz so unschuldig The Fabulous Life auf MTV an, wie es den Anschein hatte: vielleicht hatten sie aneinander herumgefummelt, vielleicht hatten sie schnell wieder Kleidung und Frisur in Ordnung gebracht, als sie mich kommen hörten. Irgendwas war da mit Michels errötenden Wangen – etwas Erhitztes. Jedenfalls kam es mir so vor.
    Doch wenn ich ehrlich war, hatte ich keinen blassen Schimmer. Vielleicht passierte ja auch überhaupt nichts, und die vielen schönen Mädchen sahen in meinem Sohn vor allem einen guten Freund: ein netter, ziemlich hübscher Junge, einer, mit dem sie gerne auf einer Party aufkreuzten – ein Junge, dem sie vertrauten, weil er keiner von den Typen war, die einem immer gleich an die Klamotten
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