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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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nicht spionierte oder doch heimlich über seine Schulter mitlas, waser gerade eingetippt hatte. Manchmal erklang ein panflötenähnlicher Ton aus seinem Handy, als Signal für eine eingehende SMS. Sein Handy lag oft irgendwo herum, ich will gar nicht erst abstreiten, dass ich so manches Mal in Versuchung geraten bin, doch einmal einen Blick drauf zu werfen, besonders wenn er gerade nicht da war. »Wer schickt ihm eine SMS? Was schreibt er/sie?« Einmal ist es passiert, ich nahm Michels Handy und wog es in der Hand. Ich wusste, dass er erst in einer Stunde vom Sport zurückkommen würde und dass er es einfach vergessen hatte – das war damals noch sein altes Handy, ein Sony Ericsson ohne Slider. »1 neue Nachricht«, stand unter dem Icon mit einem Briefumschlag auf dem Display. »Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist, aber ehe ich mich versah, hatte ich dein Handy in der Hand und habe deine SMS gelesen.« Vielleicht würde er es nie merken, vielleicht aber doch. Er würde nichts sagen, aber er würde seine Mutter verdächtigen: ein feiner Riss, der im Laufe der Zeit zu einer tiefen Kluft auswachsen würde. Unser glückliches Familienleben wäre nicht mehr wie früher.
    Es waren nur ein paar Schritte bis zu seinem Schreibtisch vorm Fenster. Wenn ich mich vorbeugte, konnte ich ihn unten im Garten sehen, auf der Terrasse vor der Küchentür, wo er seinen Reifen flickte – und wenn Michel hinaufschaute, würde er seinen Vater am Fenster in seinem Zimmer sehen.
    Ich schnappte mir sein Handy vom Schreibtisch, ein nagelneues schwarzes Samsung, und schob den Slider hoch. Ich kannte seine Pin nicht. Wäre es ausgeschaltet gewesen, hätte ich keine Chance gehabt, doch auf dem Display erschien nahezu sofort ein verschwommenes Foto von einem Nike-Logo, wahrscheinlich von seiner eigenen Kleidung abfotografiert: von seinen Schuhen oder der schwarzen Mütze, die er immer, sogar bei sommerlich heißen Temperaturen selbst im Haus trug, bis fast über die Augen tief ins Gesicht gezogen.
    Eilig suchte ich im Menü, das im Grunde dasselbe wie beimir war, ebenfalls ein Samsung, allerdings ein Modell von vor einem halben Jahr und deswegen schon hoffnungslos veraltet. Ich klickte auf »Meine Dateien« und danach auf Videos. Schneller als erwartet fand ich das Gesuchte.
    Ich schaute und merkte, wie mein Kopf langsam kalt wurde. Es war die Kälte, die man spürt, wenn man einen zu großen Happen Eis gegessen hat oder zu gierig ein eiskaltes Getränk trinkt.
    Es war eine Kälte, die schmerzte – von innen.
    Ich schaute noch einmal und schaute dann weiter: Es gab noch mehr davon, das sah ich, aber wie viel, das konnte ich so schnell nicht überblicken.
    »Papa?«
    Michels Stimme erklang von unten, aber ich hörte ihn bereits die Treppe hinaufkommen. Schnell schob ich den Slider seines Handys zu und legte es wieder auf den Schreibtisch zurück.
    Mir blieb keine Zeit mehr, noch schnell ins Schlafzimmer zu eilen, ein Hemd oder ein Jackett aus dem Schrank zu nehmen und mich damit dort vor den Spiegel zu stellen. Mir blieb nur noch, möglichst entspannt und wie selbstverständlich aus Michels Zimmer zu kommen – als ob ich etwas suchen würde.
    Als ob ich ihn suchen würde.
    »Papa.« Er war oben am Treppenabsatz stehen geblieben und blickte an mir vorbei in sein Zimmer. Dann sah er mich an. Er trug die Nikemütze, sein schwarzer iPod nano baumelte an einem Band auf der Brust, den Kopfhörer hatte er locker um den Hals gelegt. Das musste man ihm wirklich lassen, er machte sich nichts aus Statussymbolen und hatte bereits nach ein paar Wochen die weißen Ohrstöpsel gegen einen einfachen Kopfhörer ausgetauscht, weil der einen besseren Klang hatte.
    Alle glücklichen Familien gleichen einander, schoss es mir zum ersten Mal an diesem Abend durch den Kopf.
    »Ich suchte …«, fing ich an. »Ich habe mich gefragt, wo du steckst.«
    Bei seiner Geburt wäre Michel fast gestorben. Ich musste noch oft an den winzigen blauen, verschrumpelten Körper im Brutkasten kurz nach dem Kaiserschnitt denken: Dass es ihn gab, war mehr als ein Geschenk, auch das war Glück.
    »Ich habe mein Rad geflickt«, sagte er. »Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht weißt, ob wir irgendwo noch Ventile haben.«
    »Ventile«, wiederholte ich. Ich bin jemand, der sein Fahrrad nie selbst flickt, der noch nicht einmal auf die Idee käme. Und dennoch glaubte mein Sohn wider besseren Wissens noch immer an eine andere Version seines Vaters, eine Version, die wusste, wo sich
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