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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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noch dieser kleine Finger. Weshalb deutet jemand mit seinem kleinen Finger? War das chic? Gehörte das etwa zu dem Anzug mit den blauen Nadelstreifen und dem hellblauen Tüchlein? Oder hatte der Mann einfach etwas zu verbergen? Seine anderen Finger bekamen wir nämlich nicht zu Gesicht, die hatte er nach innen in die Handfläche geknickt, damit man sie nicht sehen konnte – womöglich waren sie mit Schimmelekzemen übersät oder zeigten Symptome einer unheilbaren Krankheit.
    »Bekrönt?«, staunte ich.
    »Ja, bekrönt mit Rosmarin. Bekrönt heißt, dass …«
    »Ich weiß, was bekrönt heißt«, zischte ich scharf und vielleicht auch etwas zu laut, denn am Nachbartisch unterbrachen ein Mann und eine Frau kurz ihr Gespräch und sahen in unsere Richtung: ein Mann mit einem viel zu buschigen Bart, der so ziemlich sein ganzes Gesicht bedeckte, und eine für sein Alter etwas zu junge Frau, die ich auf ungefähr Ende zwanzig schätzte; zweite Ehe, dachte ich, oder ein Flirt für einen Abend. Er versucht sie mit einem Restaurant wie diesem zu beeindrucken. »Bekrönt«, fuhr ich etwas leiser fort. »Mir ist durchaus klar, dass die Oliven nicht alle ein Krönchen tragen und mich wie die Könige anglotzen.«
    Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Claire den Kopf weggedreht hatte. Das war kein gutes Entree; der Abend war bereits verkorkst, ich musste ihn nicht noch weiter verderben, und vor allem nicht für meine Frau.
    Doch dann tat der Maître d’hôtel etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte: Ich hatte eigentlich erwartet, dass ihm die Kinnlade runterklappen würde, seine Unterlippe würde zu zittern anfangen, und er würde vielleicht erröten und danach eine vage Entschuldigung stammeln – so, wie man es ihm von oben vorgeschrieben hatte, ein Verhaltenskodex gegenüber lästigen und ungehobelten Gästen –, doch stattdessen brach er in Gelächter aus. Es war übrigens ein echtes Lachen, nicht gespielt oder aus reiner Höflichkeit.
    »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte er und hielt sich eine Hand vor den Mund; und wieder waren die Finger, wie eben beim Deuten auf die Oliven, nach innen geknickt, nur der kleine Finger war noch immer abgespreizt.
    »So hatte ich es noch nicht betrachtet.«

[Menü]
    6
    »Und was hat dieser Anzug zu bedeuten?«, fragte ich Claire, nachdem wir beide den Aperitif des Hauses bestellt hatten und der Maître d’hôtel sich von unserem Tisch entfernt hatte.
    Claire streckte über den Tisch ihre Hand nach mir aus und berührte kurz meine Wange.
    »Liebling …«
    »Ja, nein, ich finde ihn seltsam, jedenfalls hat man darüber nachgedacht. Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, dass darüber niemand nachgedacht hat?«
    Meine Frau schenkte mir ein wunderbares Lächeln, es war das Lächeln, das sie mir immer dann schenkte, wenn sie der Ansicht war, ich würde mich unnötigerweise über etwas aufregen – ein Lächeln, das ungefähr ausdrücken sollte, dass sie die Aufregung zwar durchaus amüsant fand, sie aber keineswegs gewillt war, sie ernst zu nehmen.
    »Und dann noch so ein Teelicht«, sagte ich. »Weshalb nicht gleich auch noch Plüschtiere und ein Trauermarsch?«
    Claire fischte sich eine von den peloponnesischen Oliven und ließ sie im Mund verschwinden. »Mmmm«, sagte sie. »Herrlich. Nur schade, man schmeckt wirklich, dass der Rosmarin zu wenig Sonne abbekommen hat.«
    Jetzt war ich an der Reihe, meiner Frau zuzulächeln; der Rosmarin, das hatte der Maître d’hôtel uns noch erläutert, stammte aus »eigenem Anbau« und kam aus einem Kräutergarten hinterm Restaurant. »Hast du gesehen, wie er die ganze Zeit mit dem kleinen Finger gedeutet hat?«, sagte ich und schlug die Karte auf.
    Eigentlich hatte ich mir erst einmal die Preise für die Gerichte ansehen wollen: Preise in Restaurants wie diesem hier faszinieren mich immer außerordentlich. Ich muss dazusagen, dass ich nicht unbedingt ein sparsamer Typ bin, ich würde aber auch nicht behaupten wollen, Geld spiele bei mir keine Rolle. Ich zähle wirklich nicht zu der Sorte Leute, die es nur »schade ums Geld« finden, in ein Restaurant zu gehen, »wo man zu Hause doch viel bessere Sachen kochen kann«. Nein, solche Leute haben wirklich keine Ahnung, nicht vom Essen und auch nicht von Restaurants.
    Meine Faszination rührt woandersher. Sie hat etwas damit zu tun, was ich der Einfachheit halber als den unüberwindbaren Abstand bezeichnen würde zwischen dem Gericht und dem Betrag, den man dafür zahlen muss: als
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