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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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oder dünn hatte das nicht viel zu tun, alles an ihrem Körper stand in perfektem Verhältnis zueinander. Allerdings war alles an ihr groß und breit: die Hände, die Füße, der Kopf – zu groß und zu breit, meinten diese Männer, um dann Anspielungen auf Größe und Breite anderer Körperteile zu machen und der Bedrohlichkeit so wieder menschliche Proportionen zu verleihen.
    In der Oberschule war ich mit einem Jungen befreundet gewesen, der über zwei Meter groß war. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie mühsam es manchmal war, immer neben jemandem zu stehen, der einen Kopf größer war als man selbst, als würde man sich tatsächlich in dessen Schatten befinden und dadurch auch weniger Sonnenlicht abbekommen. Weniger Sonnenlicht als es mir zusteht, dachte ich dann manchmal. An den fast permanenten Krampf im Nacken gewöhnte ich mich rasch, doch das war von allem noch am wenigsten schlimm. Im Sommer fuhren wir gemeinsam in den Urlaub. Der Schulfreund war nicht dick, nur groß, und dennoch empfand ich bei ihm jede Bewegung der Arme und Beine und auch der Füße, die aus dem Schlafsack herausschauten und von innen gegen das Zelt drückten, als einen Vorwurf. Ein Gerangel um Platz, für das ich mich verantwortlich fühlte und das mich physisch erschöpfte. Manchmal lugten seine Füße am Morgen aus der Zeltöffnung heraus, unddann fühlte ich mich schuldig: schuldig, dass keine größeren Zelte hergestellt wurden, damit Leute, wie zum Beispiel mein Schulfreund, auch von Kopf bis Fuß hineinpassten.
    In Babettes Anwesenheit gab ich mir immer alle Mühe, mich größer und länger zu machen, als ich es eigentlich war. Ich streckte mich, damit sie mich direkt ansehen konnte. Auf Augenhöhe.
    »Gut siehst du aus«, sagte Babette und verstärkte etwas den Druck ihrer Hand auf meinem Unterarm. Bei den meisten Leuten, insbesondere bei Frauen, bedeuten laut ausgesprochene Komplimente über das Aussehen gar nichts, bei Babette aber schon, hatte ich im Laufe der Jahre gelernt. Wenn jemand, den sie mochte, schlecht aussah, dann sagte sie ihm das auch.
    »Gut siehst du aus« konnte also einfach bedeuten, dass ich tatsächlich gut aussah, aber vielleicht forderte sie mich über diesen Umweg auch dazu auf, etwas über ihr Aussehen zu sagen – oder ihm jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als sonst zu schenken.
    Deshalb sah ich mir ihre Augen noch einmal genau an, hinter den Brillengläsern, in denen sich so ziemlich das ganze Restaurant spiegelte: die Speisenden, die weißen Tischtücher, die Teelichter … ja, Dutzende von Teelichtern glänzten in den Brillengläsern, die, das sah ich erst jetzt, nur im oberen Teil richtig dunkel waren. Darunter waren sie höchstens leicht getönt, und so konnte ich Babettes Augen genau sehen.
    Sie waren rot umrandet und ungewöhnlich weit geöffnet: eindeutig die Spuren eines frischen Heulanfalls. Kein Heulanfall, der ein paar Stunden zurücklag, nein, ein frischer Heulanfall, im Auto, auf dem Weg zum Restaurant.
    Vielleicht hatte sie auf dem Parkplatz noch versucht, die schlimmsten Spuren zu beseitigen, doch das war ihr nicht richtig gelungen. Das Personal mit den schwarzen Bistroschürzen, der Maître d’hôtel im Dreiteiler und der flotte Eigentümer mit dem weißen Rollkragenpulli konnten mit dengetönten Gläsern vielleicht noch in die Irre geführt werden, ich aber nicht.
    Und im selben Moment wusste ich genau, dass Babette mich auch gar nicht hatte täuschen wollen. Sie war mir näher gekommen als sonst, sie hatte mich knapp neben den Mund geküsst, ich musste ihr einfach in die Augen schauen und daraus meine Schlüsse ziehen. Sie klimperte jetzt ein paar Mal mit den Augenlidern und zuckte mit den Schultern, Körpersprache, die nur »Es tut mir leid« bedeuten konnte.
    Doch bevor ich etwas hätte sagen können, drängte sich Serge dazwischen. Er schob seine Frau förmlich zur Seite und ergriff meine Hand, um sie kräftig zu schütteln. Früher war sein Händedruck nicht so stark gewesen, doch in den letzten Jahren hatte er sich antrainiert, den »Leuten im Lande« mit einem kräftigen Händedruck entgegenzutreten – einem schlaffen Pfötchen würden sie jedenfalls nie ihre Stimme geben.
    »Paul«, sagte er.
    Er lächelte noch immer, doch es handelte sich nicht um ein Lächeln, das von irgendeinem Gefühl ausgelöst wurde. Immer schön lächeln, konnte man ihn denken sehen. Das Lächeln war genauso einstudiert wie der Händedruck. Beides musste ihm innerhalb von sieben Monaten zum
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