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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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gerade einfach nur zu zweit unterwegs. Wenn ich Glück definieren müsste, dann bestimmt so: Glück genügtsich selbst, es braucht keine Zeugen. »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich«, so lautet der erste Satz von Tolstois Anna Karenina . Ich könnte dem höchstens noch hinzufügen, dass die unglücklichen Familien – und bei diesen Familien insbesondere die unglücklichen Ehepaare – nie alleine damit fertigwerden. Je mehr Zeugen, desto besser. Unglück ist immer auf der Suche nach Gesellschaft. Unglück erträgt keine Stille – vor allem nicht dieses unangenehme Schweigen, das aufkommt, wenn es alleine ist.
    Also lächelten Claire und ich uns in der Kneipe an, als wir unser Bier bekamen, im Bewusstsein, dass wir gleich den ganzen Abend in Gesellschaft des Ehepaars Lohman verbringen würden. Das hier würde der schönste Moment des Abends sein, danach konnte es nur noch bergab gehen.
    Ich hatte keine Lust, in diesem Restaurant zu essen. Ich habe nie Lust, auszugehen. Eine demnächst anstehende feste Verabredung ist für mich das Fegefeuer, der eigentliche Abend die Hölle. Es fängt bereits morgens vor dem Spiegel an: Was soll man anziehen, soll man sich nun rasieren oder nicht. In Hinblick auf einen solchen Abend wird alles zum Statement, eine Jeans mit Löchern und Flecken ebenso wie ein gebügeltes Hemd. Lässt man sich einen Eintagesbart stehen, war man zu faul, sich zu rasieren; bei einem Zweitagebart kommt die unvermeidliche Frage, ob er Teil eines neuen Looks sei; bei einem Dreitagebart oder einem noch mehrtägigen Bart ist der Schritt zur totalen Verwahrlosung nur noch minimal. »Ist bei dir noch alles in Ordnung? Du bist doch nicht etwa krank oder so?« Egal ob man sich rasiert oder nicht, man fühlt sich nicht frei. Das Rasieren ist einfach ein Statement. Offenbar war einem der Abend so wichtig, dass man sich die Mühe gemacht hat, sich zu rasieren – man kann regelrecht sehen, wie die anderen diesen Gedanken denken. Wer sich rasiert, befindet sich sofort 1:0 im Rückstand.
    Und dann gibt es immer noch Claire, die mich an Abenden wie diesen daran erinnert, dass es sich nicht um einen normalen Abend handelt. Claire ist klüger als ich. Ich sage das jetzt nicht als halbherzig gemeinte feministische Bemerkung oder um mich bei Frauen einzuschmeicheln. Ich würde auch niemals behaupten, Frauen seien »im Allgemeinen« klüger als Männer. Oder empfindsamer oder intuitiver oder »sie würden mit beiden Beinen im Leben stehen« oder einen ähnlichen Mist, der, bei Tageslicht betrachtet, öfter von sogenannten empfindsamen Männern verbreitet wird als von Frauen.
    Claire ist einfach klüger als ich. Ich gebe ehrlich zu, dass es einige Zeit gebraucht hat, bis ich mir das eingestehen konnte. In den ersten Jahren unserer Beziehung fand ich sie durchaus intelligent, allerdings ganz normal intelligent; eigentlich genau so intelligent, wie man es von der Frau an meiner Seite erwarten konnte. Mit einer dummen Frau würde ich es doch nicht länger als einen Monat aushalten? Claire war jedenfalls so intelligent, dass ich es nach einem Monat noch mit ihr ausgehalten habe. Und jetzt, nach fast zwanzig Jahren, noch immer.
    Gut. Claire ist also klüger als ich, doch an einem Abend wie diesem fragt sie mich immer nach meiner Meinung, welche Ohrringe sie tragen soll, ob sie ihr Haar hochstecken soll oder nicht. Ohrringe haben für Frauen ungefähr dieselbe Bedeutung wie das Rasieren für Männer: Je größer die Ohrringe, desto wichtiger, desto festlicher der Abend. Claire hat Ohrringe für jeden Anlass. Man könnte sagen, dass es nicht gerade von Intelligenz zeugt, wenn man sich bei der Wahl seiner Kleidung so unsicher verhält. Aber ich sehe das anders. Gerade eine dumme Frau würde denken, sie könne das alleine entscheiden. Was weiß denn ein Mann schon von solchen Sachen?, würde die dumme Frau denken und dann die falsche Wahl treffen.
    Ich versuche mir manchmal vorzustellen, wie Babette Serge fragt, ob sie das richtige oder falsche Kleid anhat. Ob ihre Haare nicht zu lang sind. Wie Serge diese Schuhe findet. Sind die Absätze nicht zu flach? Oder etwa zu hoch?
    Doch irgendetwas funktioniert bei dieser Vorstellung nicht, offenbar scheint sie vollkommen unvorstellbar zu sein. »Nein, das ist doch genau richtig«, höre ich Serge sagen. Aber er ist nur halb bei der Sache, es interessiert ihn nicht wirklich. Und zudem: Auch wenn seine Frau das
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