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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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verschiedenste Umstände zurück. Dass man keine Wurzeln in einer anderen Kultur schlagen könne, wurde als wichtigster Faktor genannt, gefolgt von genetischen Aspekten: »die Webfehler«, die die Kinder von ihren leiblichen Eltern mitbekommen hatten. Und im Falle einer Adoption im fortgeschrittenen Alter auch noch die Dinge, die vor der Aufnahme in die neue Familie mit den betreffenden Kindern passiert sein konnten.
    Ich dachte an die Tage damals in Frankreich, an das Fest im Garten meines Bruders. Als die französischen Bauern Beau dabei erwischt hatten, wie er ein Huhn geklaut hatte, und Serge gesagt hatte, seine Kinder würden so etwas niemals tun. Seine Kinder, hatte er gesagt, ohne irgendeinen Unterschied zu machen.
    Ich musste wieder an ein Tierheim denken. Auch da wusste man nicht, was mit einem Hund oder einer Katze in der Vergangenheit passiert war, wenn man sie mit nach Hause nahm, ob er oder sie womöglich geschlagen wurde oder tagelang in einem dunklen Keller vegetiert hatte. Aber das machte nichts. Wenn der Hund oder die Katze widerspenstig waren, brachte man ihn oder sie wieder zurück.
    Am Schluss des Artikels wurde noch die Frage gestellt, ob leibliche Eltern weniger schnell dazu neigten, ihre außer Kontrolle geratenen Kinder verloren zu geben.
    Ich kannte die Antwort, doch ich gab den Artikel erst Claire zum Lesen.
    »Was meinst du denn dazu?«, fragte ich sie, als sie den Artikel gelesen hatte. Wir saßen an unserem kleinen Küchentisch, die Reste vom Frühstück zwischen uns. Sonnenlicht fiel in den Garten und auf die Küchenanrichte. Michel war beim Fußball.
    »Ich habe mich oft gefragt, ob Beau seinen Bruder und seinen Cousin auch erpresst hätte, wenn er mit ihnen wirklich verwandt gewesen wäre«, sagte Claire. »Na klar, das kennt man ja, echte Brüder und Schwestern streiten sich, manchmal würden sie den anderen am liebsten nie mehr wiedersehen. Aber dann … wenn es darauf ankommt, wenn es um Leben und Tod geht. Dann stehen sie einander doch hilfsbereit zur Seite.«
    Da fing Claire an zu lachen.
    »Was ist denn?«, fragte ich.
    »Ach, ich höre mich selbst plötzlich reden«, sagte sie noch immer lachend. »Über Brüder und Schwestern. Und das sage ich zu dir!«
    »Ja«, antwortete ich und musste jetzt auch lachen.
    Wir schwiegen eine Weile, sahen uns nur ab und zu an. Als Mann und Frau. Als zwei Teile einer glücklichen Familie, dachte ich. Natürlich waren Sachen passiert, doch in der letzten Zeit dachte ich immer öfter daran wie an einen Schiffbruch. Eine glückliche Familie überlebt einen Schiffbruch. Ich will nicht behaupten, die Familie könne danach noch glücklicher werden, sie wird jedenfalls aber auch nicht unglücklicher.
    Claire und ich. Claire und Michel und ich. Wir drei teilten etwas. Etwas, das es zuvor nicht gegeben hatte. Wir teilten zwar nicht alle drei dasselbe, aber das war vielleicht auch nicht nötig. Man muss nicht alles voneinander wissen. Geheimnisse stehen dem Glück nicht im Weg.
    Ich dachte an den Abend im Anschluss an unser Essen. Ich war eine Zeit lang allein, bevor Michel nach Hause kam. In unserem Wohnzimmer steht ein antikes Schubladenschränkchen, in dem Claire ihre Sachen aufbewahrt. Bereits beim Aufziehen der ersten Schublade beschlich mich das Gefühl, hier etwas zu tun, das ich später bereuen würde.
    Ich musste an die Zeit denken, als Claire im Krankenhaus gelegen hatte. Einmal wurde bei ihr eine innere Untersuchung vorgenommen, bei der ich zugegen war. Ich saß auf einem Stuhl neben ihrem Bett und hielt ihre Hand fest. Der Arzt forderte mich dazu auf, doch auf dem Monitor mitzugucken, während sie bei meiner Frau irgendwo etwas einführten – einen Schlauch, eine Sonde, eine Kamera –, und wie ich dann nur ganz kurz hingeschaut und danach schnell den Blick abgewendet habe. Es hatte nichts damit zu tun, dass ich die Bilder vielleicht nicht ertragen würde oder Angst hatte, ich könnte in Ohnmacht fallen, nein, es war etwas anderes. Ich habe kein Recht dazu, dachte ich.
    Ich wollte schon wieder aufhören, als ich fand, was ich suchte. In der obersten Schublade lagen alte Sonnenbrillen, Haargummis und Ohrringe, die sie nie mehr trug. Doch in der zweiten Schublade lagen die Unterlagen: Vereinsmitgliedschaft von einem Tennisklub, die Police von einer Fahrradversicherung, ein abgelaufener Parkausweis und ein Briefumschlag mit Fenster und dem Namen eines Krankenhauses links unten in der Ecke.
    Der Name des Krankenhauses, in dem Claire operiert
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