Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
Vom Netzwerk:
aus der Tasche und hielt es übers Wasser. Von dem Platschen angelockt, schwamm eine Ente herbei. Danach löste ich mich von der Brückenbrüstung und setzte mich in Bewegung. Nicht mehr in Zeitlupe, sondern in einem möglichst natürlichen Tempo: nicht zu langsam, nicht zu schnell. Auf der anderen Seite der Brücke überquerte ich den Fahrradweg, ich sah nach links und ging weiter zur Straßenbahnhaltestelle. Es hatten sich bereits einige Zuschauer versammelt, keine große Menge zu dieser späten Stunde, höchstens zwanzig Neugierige. Links neben der Kneipe gab es eine enge Gasse. Auf diese Gasse ging ich zu.
    Kaum hatte ich den Gehweg erreicht, da gingen die Schwingtüren der Kneipe auf, mit zwei lauten Schlägen. Eine Krankentrage kam heraus, eine Trage auf Rädern, geschoben und gezogen von je zwei Krankenpflegern. Der hinterste Pfleger hielt einen Plastikbeutel mit einer Infusion hoch. Hinter ihm folgte Babette, sie trug ihre Brille nicht mehr, sondern drückte sich ein Taschentuch vor die Augen.
    Von der Person auf der Trage war nur der Kopf zu sehen, der unter dem grünen Laken hervorschaute. Eigentlich hatte ich es bereits die ganze Zeit gewusst, doch nun atmete ich erleichtert auf. Der Kopf war mit Watte und Verbandsmull bedeckt. Blutbefleckte Watte und Verbandsmull.
    Die Trage wurde durch die geöffnete Heckklappe in den Krankenwagen hineingeschoben. Zwei Krankenpfleger stiegen vorne ein, die beiden anderen hinten, zusammen mit Babette. Die Klappe wurde geschlossen und der Rettungswagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit vom Gehweg und bog nach rechts in Richtung Zentrum ab.
    Die Sirene ging an, es bestand also noch Hoffnung.
    Vielleicht aber auch gerade nicht, es kam immer darauf an, von welcher Seite man es betrachtete.
    Viel Zeit, mir Gedanken über die unmittelbare Zukunft zu machen, blieb mir nicht, denn die Schwingtüren öffneten sich erneut.
    Claire lief einfach zwischen den beiden Polizisten, sie trug keine Handschellen, die Polizisten hielten sie noch nicht einmal fest. Sie sah sich um, sie suchte die Gesichter der kleinen Menge ab, auf der Suche nach dem einen bekannten Gesicht.
    Dann fand sie es.
    Ich sah zu ihr und sie sah zu mir. Ich trat einen Schritt vor, zumindest verriet mein Körper, dass ich einen Schritt nach vorne machen wollte.
    In dem Moment schüttelte Claire den Kopf.
    Nichts tun, signalisierte sie. Sie war schon fast bei einem der Polizeiwagen angelangt, die Hintertür wurde ihr von einem dritten Polizisten aufgehalten. Ich sah mich schnell um, ob jemandem in der Menge aufgefallen war, wem Claires Kopfschütteln gegolten hatte, doch sie interessierten sich alle nur für die Frau, die zum Polizeiwagen abgeführt wurde.
    Bei der geöffneten Wagentür angekommen, blieb Claire kurz stehen. Sie suchte und fand erneut meine Augen. Sie machte eine Bewegung mit dem Kopf, für Nichteingeweihte sah es vielleicht so aus, als würde sie sich nur bücken, damit sie sich den Kopf beim Einsteigen nicht stieß, doch für mich wies Claires Kopf unverkennbar in eine bestimmte Richtung.
    Nach irgendwo schräg hinter mir, zu der Gasse hin, dem kürzesten Weg nach Hause.
    Nach Hause, hatte meine Frau gesagt. Geh nach Hause.
    Ich wartete nicht, bis der Polizeiwagen abgefahren war. Ich drehte mich um und ging weg.

[Menü]
    46
    Wie viel Trinkgeld gibt man in einem Restaurant, wo man beim Anblick der Rechnung auflachen muss? Ich kann mich daran erinnern, dass es oft ein Diskussionsthema war, nicht unbedingt nur mit Serge und Babette, sondern auch mit Freunden, mit denen wir in niederländischen Restaurants gegessen haben. Nehmen wir einmal an, man zahlt für ein Essen mit vier Personen vierhundert Euro – aufgepasst, ich sage jetzt nicht, dass unser Essen vierhundert Euro gekostet hat –, geht man dann von einem Trinkgeld zwischen zehn und fünfzehn Prozent aus, dann ergibt sich daraus logischerweise ein Betrag zwischen mindestens vierzig und höchstens sechzig Euro, den man dalassen muss.
    Sechzig Euro Trinkgeld – ich kann mir nicht helfen, aber ich muss darüber kichern. Und wenn ich nicht aufpasse, breche ich erneut in Gelächter aus. Ein etwas nervöses Lachen, ein Lachen wie auf einem Begräbnis oder in der Kirche, wo man still sein muss.
    Aber unsere Freunde lachen nie. »Die Leute müssen doch davon leben!«, sagte einmal eine gute Freundin bei einem Essen in einem vergleichbaren Restaurant.
    Am Morgen unseres Essens hatte ich fünfhundert Euro abgehoben. Ich hatte mir vorgenommen, die ganze
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher