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Angerichtet

Angerichtet

Titel: Angerichtet
Autoren: Hermann Koch
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Rechnung zu bezahlen, inklusive Trinkgeld. Ich würde das schnell machen, ich würde die zehn Scheine à fünfzig Euro in das Schälchenlegen, bevor mein Bruder überhaupt die Gelegenheit bekäme, seine Kreditkarte zu zücken.
    Als ich die restlichen vierhundertfünfzig Euro am Ende dieses Abends dann doch noch in das Schüsselchen legte, dachte der Maître d’hôtel anfangs, ich hätte da etwas falsch verstanden. Er sagte irgendetwas. Wer weiß, vielleicht wollte er sagen, dass ein Trinkgeld von hundert Prozent wirklich zu viel des Guten sei, aber ich kam ihm zuvor. »Das ist für Sie«, sagte ich. »Wenn Sie mir versprechen, dass Sie mich nie mit meinem Sohn im Garten gesehen haben. Nie. Nicht jetzt. Nicht in einer Woche. Und auch nicht in einem Jahr.«
    Serge verlor die Wahl. Anfangs war bei den Wählern noch eine gewisse Sympathie für den Kandidaten mit dem übel zugerichteten Gesicht zu spüren gewesen. Ein Weißweinglas – ein knapp über dem Stiel abgebrochenes Weißweinglas, muss ich eigentlich sagen – verursacht seltsame Wunden. Vor allem wachsen sie seltsam wieder zusammen, mit viel wildem Fleisch und nackten Stellen, an denen das alte Gesicht nie wieder zurückkehren würde. Während der ersten zwei Monate wurde er dreimal operiert. Nach der letzten Operation ließ er sich eine Weile einen Bart stehen. Jetzt, wo ich daran zurückdenke, glaube ich, dass es der Bart war, der die Wende eingeleitet hat. Da stand er dann mit seiner Windjacke, auf dem Markt, auf der Baustelle, an den Fabriktoren, und teilte Flugblätter aus – mit einem Bart.
    In den Wahlprognosen sank der Stern von Serge Lohman dramatisch. Was ein paar Monate zuvor noch wie ein gewonnenes Rennen ausgesehen hatte, wurde nun ein freier Fall. Einen Monat vor den Wahlen nahm er sich den Bart wieder ab. Ein letzter Akt der Verzweiflung. Die Wähler sahen das Gesicht mit den Narben. Aber sie sahen auch die nackten Stellen. Es ist verwunderlich und in gewisser Weise auch ungerecht, was ein vernarbtes Gesicht mit jemandem anrichten kann. Man sahdie nackten Stellen, und man fragte sich unwillkürlich, was zuvor an diesen Stellen gewesen war.
    Doch es war zweifellos der Bart, der ihm den Todesstoß versetzt hat. Oder besser gesagt: sich erst einen Bart stehen zu lassen und ihn dann wieder abzunehmen. Als es bereits zu spät war. Serge Lohman weiß nicht, was er will, war die Schlussfolgerung der Wähler, und sie gaben ihre Stimme dem Vertrauten. Dem Fleck auf der Tapete.
    Selbstverständlich reichte Serge keine Klage ein. Eine Klage gegen die Schwägerin, die Frau seines Bruders, das wäre wirklich kein gutes Zeichen.
    »Ich glaube, inzwischen hat er es begriffen«, sagte Claire ein paar Wochen nach dem Vorfall in der Kneipe. »Er sprach doch selbst davon: dass er es als Familie lösen will. Ich glaube, er hat begriffen, dass einige Sachen einfach innerhalb der Familie bleiben müssen.«
    Serge und Babette hatten jedenfalls noch genügend andere Sachen im Kopf. Sachen wie die Vermisstenanzeige für ihren Adoptivsohn Beau. Sie gingen die Sache groß an. Eine Kampagne mit Fotos in Zeitungen und Zeitschriften, Plakate in Stadt und Land, ein Fernsehauftritt in Vermisst .
    In der letzten Sendung wurde die Nachricht abgespielt, die Beau vor seinem Verschwinden seiner Mutter auf die Mailbox gesprochen hatte. Babettes Handy wurde nicht wiedergefunden, doch die Nachricht war gespeichert geblieben, auch wenn sie jetzt eine andere Bedeutung hatte als am Abend des Essens.
    »Mama, egal was passiert … ich will dir sagen, dass ich dich liebe …«
    Man könnte behaupten, sie hätten Himmel und Erde in Bewegung versetzt, um Beau wiederzufinden, aber es gab auch Zweifel. Ein Wochenblatt unterstellte als Erstes, dass Beau vielleicht von seinen Adoptiveltern die Nase voll gehabt hatte und in sein Geburtsland zurückgekehrt war. »Das kommtschon mal vor, wenn sie in ›einem schwierigen Alter‹ sind«, schrieb das Blatt, »adoptierte Kinder begeben sich dann auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern. Oder zumindest entwickeln sie eine Neugierde für ihr Heimatland.«
    Eine Zeitung widmete dem Vorfall einen ganzseitigen Artikel, in dem zum ersten Mal öffentlich die Frage diskutiert wurde, ob leibliche Eltern mit größerem Einsatz nach ihren Kindern suchen würden als Adoptiveltern. Es wurden Beispiele von Adoptiveltern mit auf die schiefe Bahn geratenen Kindern genannt, die beschlossen hatten, sie ziehen zu lassen. Häufig führte man die Probleme auf
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