Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

04 Verhaengnisvolles Schweigen

Titel: 04 Verhaengnisvolles Schweigen
Autoren: Peter Robinson
Vom Netzwerk:
* 1
     
    Es war das erregendste Gefühl auf der Welt. Seine Oberschenkel schmerzten, in seinen Waden pochte es, und er bekam kaum noch Luft. Aber er hatte es geschafft. Neil Fellowes, ein bescheidener Lohnbuchhalter aus Pontefract, stand auf dem Gipfel des Swainshead-Berges.
      Nicht dass diese Leistung mit der von Sir Edmund Hillary zu vergleichen gewesen wäre, der Berg war schließlich nur 553 Meter hoch. Aber Neil wurde nicht jünger, außerdem hatten sich seine Kollegen in Baxwells Werkzeugmaschinenfabrik über ihn und seine Pläne lustig gemacht, eine Bergwanderung in den Yorkshire Dales zu unternehmen.
      »Berge?«, hatte Dick Blatchley, einer der Witzbolde aus der Postabteilung, gehöhnt. »Das wird 'n Absturz, bevor du oben bist, Neil.« Und die anderen hatten sich gebogen vor Lachen.
      Doch jetzt, als er hier oben in der dünnen Luft stand und sein Herz tief in seiner Brust hämmerte wie die Kolben der Dampfmaschinen in der Fabrik, war er derjenige, der zuletzt lachte. Er schob seine metallgerahmte Brille hoch und wischte sich den Schweiß vom Nasenrücken. Danach rückte er die Riemen seines Rucksacks zurecht, die ihm in die Schultern schnitten.
      Über eine Stunde war er geklettert; keine zu gefährliche Angelegenheit, keine steilen Anstiege, nichts, wozu man besonders ausgerüstet sein müsste. Eine Bergwanderung war eine Art demokratischer Erholung: nur einfache, harte Arbeit. Und es war ein idealer Tag für eine Wanderung. Die Sonne blitzte immer wieder zwischen den dichten weißen Wolken hindurch, während eine kühle Brise für eine angenehme Temperatur sorgte. Perfektes Frühlingswetter an diesen letzten Maitagen.
      Er stand in dem struppigen, unebenen Gras, umgeben von Heidekraut und einer Handvoll Schafe - und die hatten ihm bereits den Rücken zugekehrt und hoppelten in sicherer Entfernung davon. Hier oben war er der König, er setzte sich auf einen verwitterten Kalksteinfelsen und genoss dieses Gefühl.
      Am Fuße des Berges konnte er gerade noch die nördlichen Ausläufer des Dorfes Swainshead ausmachen, von wo er losgewandert war. Jenseits des Baches erkannte er problemlos die weißgetünchte Fassade des White Rose, außerdem das moosbedeckte Steindach des Greenock-Gasthauses, wo er nach der gestrigen Wanderung in Wharfedale eine angenehme Nacht verbracht hatte. Bevor er an diesem Morgen losgezogen war, hatte er sich dort auch an einem Frühstück mit Bratwurst, Speck, Blutwurst, geröstetem Brot, gegrillten Pilzen, Tomaten, zwei Spiegeleiern, Tee, Toast und Marmelade gelabt.
      Er stand auf, um das ganze Panorama zu betrachten, begann im Westen, wo die Berge allmählich wie in gefrorenen Wellen zum Meer hin abfielen. Im Nordwesten lagen die runden Hügel des Lake Districts. Neil freute sich, dass er Striding Edge bei Helvellyn und gelegentliche Sonnenschimmer auf den Seen Windermere und Ullswater erkennen konnte. Dann blickte er nach Süden, wo die Landschaft in die Pennines überging, dem Gebirgszug, den man das Rückgrat Englands nennt. Der Fels war dunkler dort, hier und da stachen Vorsprünge aus Mühlsteinstaub aus dem glitzernden Kalkstein hervor. Kilometerweit erstreckte sich eine wilde, bedrohliche Moorlandschaft bis nach Derbyshire. Und im Südosten, in der Talsohle, die von hier nicht zu erkennen war, lag schließlich Swainsdale.
      Was Neil allerdings am meisten erstaunte, war ein schmales, bewaldetes Tal am östlichen Abhang, genau unter ihm. Die Reiseführer hatten für die Route, die er sich ausgesucht hatte, keine besondere Sehenswürdigkeit erwähnt, und er hatte sie ja gerade deswegen ausgewählt, damit niemand seine Einsamkeit störte. Anscheinend waren die meisten Leute darauf aus, Steingräber, alte Bleiminen und historische Gebäude zu suchen.
      Zusätzlich zu seiner Lage und Abgeschiedenheit war das Laubwerk des Tals ungewöhnlich. Es muss sich um eine Lichttäuschung handeln, dachte Neil, denn im Gegensatz zu der frühlingshaften Frische und Farbe der Bäume ringsherum schienen die Blätter der Eschen, Birken und Ahorne unter ihm rostfarben, orange und erdbraun getönt zu sein. Dieses Tal schien ihm geradewegs Tolkiens Herr der Ringe entsprungen zu sein.
      Neil überlegte. Es würde zwei, drei Kilometer mehr und eine ungeplante Kletterpartie zurück bedeuten, andererseits sahen die Hänge nicht sonderlich steil aus, und an den schattigen Ufern des Baches könnte er vielleicht einige interessante wilde Blumen entdecken. Also rückte er noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher