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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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»Gut, dann komme ich mit.«
»In die Klinik?«
»Ja. Aber nicht zu Nicholas«, fügt sie auf meinen irritierten
Blick hinzu. »Ich muss dir noch etwas zeigen, bevor du mit
Gable verschwindest.«
Mehr ist aus ihr nicht herauszukriegen.
Wir nehmen den Bus. Als ich vom Fahrer zwei Tickets
verlange, schiebt Dianne sich neben mich. Ich starre überrascht
auf die Monatskarte, die sie gezückt hat und dem Busfahrer
entgegenhält. Plötzlich fällt mir der Sommertag ein, an dem
Nicholas mich in der Bibliothek angesprochen hatte. Kurz
darauf hatte ich Dianne mit Kora auf der Straße diskutieren und
dann den Bus besteigen sehen.
»Okay«, seufze ich, als wir uns gesetzt haben. »Sagst du es
mir gleich, oder soll ich mich überraschen lassen?«
»Ich würde lieber warten, bis wir dort sind.«
»Ich mag deine Überraschungen nicht.«
»Keine Angst.«
Der Bus ruckelt im Schneckentempo durch die verschneite
Landschaft. In jedem Dorf macht er Halt, aber es steigen nur
wenige Leute ein oder aus. In den Vorgärten stehen mit
Lichterketten geschmückte kleine Tannenbäume. In dicke
Mäntel gehüllte Menschen sind unterwegs, Kinder ziehen
Schlitten hinter sich her. Der Himmel verspricht weitere
Schneefälle. Ich wende den Blick ab und betrachte meine
Hände. Ich habe die Zeit zwischen den Jahren nie gemocht, weil
ich sie als unwirklich empfinde, als erzwungenes Warten in
einem Niemandsland an der Grenze zwischen Gestern und
Morgen.
»Ich werde dich vermissen«, sagt Dianne, als wir uns der
Stadt nähern.
»Hoffentlich.«
»Das meine ich ernst, Phil.« Sie legt eine Hand auf mein Knie.
»Die letzten Jahre sind beschissen zwischen uns gelaufen. Und
jetzt, wo ich das Gefühl habe, dass es besser werden könnte,
verschwindest du.«
»Wirst du es hier allein aushalten?«
»Ich bin nicht allein. Ich habe Kora, und ich habe Visible und
Glass.« Auf meinen überraschten Blick hin winkt sie ab. »Du
denkst jetzt, dass mir nicht anderes übrig bleiben wird, als mit
ihr zu sprechen, wenn du erst mal fort bist, oder? Weil wir dann
aufeinander angewiesen sind oder so etwas.«
Ich nicke.
»Kann sein, dass ich es tue.« Dianne sieht zum Fenster hinaus.
»Wie fandest du diesen Dennis?«
»Ganz nett. Attraktiv. Vor allem mutig.«
»Ich auch.« Mit einem Finger malt sie kleine Muster auf die
beschlagene Scheibe. »Komisch, oder? Er kommt wieder. In
zwei Wochen oder so.«
»Nach Visible?«
Sie nickt.
Am Busbahnhof steigen wir um. Die Klinik liegt außerhalb
der Stadt, eingebettet zwischen Hügel, in die sich eine
serpentinenreiche Straße schraubt. Je näher wir zu unserem Ziel
kommen, desto unruhiger werde ich. Irgendwo in diesem
gigantischen Komplex liegt Nicholas. An der Pforte lasse ich
mir seine Zimmernummer geben, dann folge ich Dianne. Die
verwirrend vielen Korridore und Gänge, die das Krankenhaus
durchziehen wie einen Ameisenstock und die mich als
Löffelchen so einschüchterten, haben nichts von ihrem
labyrinthischen Charakter verloren. Dianne durchquert sie, ohne
nach links oder rechts zu schauen. Mit traumwandlerischer
Sicherheit findet sie die richtigen Abbiegungen,
Treppenaufgänge und Schleusentüren, die sich über unsichtbare
Bodenkontakte mit einem leisen Zischen selbsttätig öffnen. Es
ist verrückt, aber hinter jeder Ecke rechne ich damit, auf
Oberschwester Marthe zu stoßen und ihr erklären zu müssen,
dass ihr ehemaliges Löffelchen längst nicht mehr die
Nachthemden fremder Mädchen trägt, sondern bestenfalls die
Pyjamas anderer Jungen. Ihrem Herrgott würde das nicht
gefallen, ganz und gar nicht. Ich schüttele den Kopf und schiebe
den Gedanken beiseite.
Irgendwann stehen Dianne und ich vor einer breiten,
verschlossenen Tür, in die zwei Glasfenster eingelassen sind.
Dianne drückt auf einen Klingelknopf.
»Sind wir hier richtig?« Ich schaue auf das neben der Tür
angebrachte Schild. »Intensivstation?«
»Ja. Warte einen Moment.«
Die Tür öffnet sich mit einem kurzen Summen. Dianne tritt
ein. Durch die Fenster sehe ich sie in einem kleinen Vorraum
mit einer jungen Krankenschwester sprechen,
herumgestikulieren und in meine Richtung zeigen. Die
Schwester schüttelt entschieden den Kopf. Dianne wird heftig –
ich höre ihre Stimme bis hierher, kann aber die Worte nicht
verstehen. Ein älterer Arzt kommt hinzu, Dianne gibt ihm die
Hand. Die Gesten und die Art der beiden, miteinander zu
sprechen, sind von einer Vertrautheit, als würden sie sich seit
Jahren kennen. Der
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