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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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mit Gable in Griechenland.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Du warst nicht da, Phil. Du warst einfach nicht da.«
Ich nehme sie in den Arm und drücke sie fest an mich. Sie
weint nicht, aber ihr Körper erbebt, als hätte ihr Herzschlag
einen Weg nach draußen gefunden und setze sich über ihre Haut
fort. Ich war nicht für sie da, weder vor Zephyrs Unfall noch
danach. Habe mich von Zypressenduft betäuben lassen,
während Dianne sich in die Liebe zu einem Jungen verstrickte,
der sie nie wieder ansehen, berühren oder küssen würde. Ich
denke an die Briefe, die sie geschrieben hat, all diese Briefe…
»Ich habe ihn mindestens zweimal pro Woche besucht«,
flüstert Dianne an meiner Schulter. »Ich dachte, ohne mich…
Ich dachte, er würde sterben ohne mich. Verrückt, oder?«
»Nein.«
»Es war so leicht, ihn zu lieben. Er konnte sich nicht dagegen
wehren. Dabei hatte ich am Ende schon die Farbe seiner Augen
vergessen.« Sie löst sich aus meiner Umarmung. »Glass wollte
es nicht. Aber dass es aufgehört hat, habe ich Kora zu
verdanken. Sie hat mir den Kopf gewaschen.«
»Im Fluss?« Ich grinse, obwohl ich mich schäbig fühle.
Schäbig und klein. Klein und verräterisch. »Sieht so aus, als
hätte deine Freundin dir besser beigestanden als dein Bruder.«
»Ja.«
Eine Stille tritt ein, die mir peinlich ist. Dianne sieht mich
unverwandt an. Ich wünschte, in ihrem Blick lesen zu können,
aber dazu haben wir zu lange in verschiedenen Welten gelebt.
Schließlich sehe ich verlegen zu Boden. Dass sie mich hierher
gebracht hat, ist Vorwurf und Vertrauensbeweis zugleich.
Nichts ist verloren, aber wir brauchen viel Zeit. Es wird an mir
sein, Briefe an Dianne zu schreiben, Briefe aus allen Ecken der
Welt.
»Du willst noch zu Nicholas«, sagt sie endlich.
»Ja.« Ich zögere, dann zeige ich auf Zephyr. »Wird er
wieder… ich meine, besteht eine Chance, dass er irgendwann
wieder aufwacht?«
»Nein, er ist tot«, antwortet Dianne nüchtern. »Wenn die
Maschine entfernt würde, wäre es vorbei. Aber seine Eltern
lassen es nicht zu.«
»Du kennst sie?«
»Sehr gut sogar.«
»Warum lassen sie ihren Sohn an diesem Apparat hängen?«
»Weil sie ihn lieben.«
»Das ist sehr egoistisch.«
Dianne zuckt die Achseln. »Das ist Liebe doch immer, oder?«
Sie bleibt bei Zephyr. Wir werden uns später an der Pforte
treffen. Ich verlasse die Intensivstation, und während ich mich
durch das scheinbar keiner Logik folgende, verschachtelte
System der Krankenhausgänge bewege, denke ich an die Farbe
von Nicholas Augen und überlege, ob es eine gute Idee ist, ihn
gegen seinen ausdrücklichen Willen zu besuchen.
    WIE ICH ERWARTET HABE, ist Glass wenig begeistert von
der Vorstellung, mich in Gables Begleitung nach Amerika
davonschippern zu sehen. Sie stellt meine Entscheidung mit
keinem Wort in Frage, aber ich kann sehen, wie es hinter ihrer
Stirn angestrengt arbeitet. Ich halte ihren vermeintlichen
Unwillen für ganz normale mütterliche Besorgnis, aber es steckt
mehr dahinter. Bis zum Silvesterabend hält Glass sich zurück.
Ich muss mit Blindheit geschlagen sein, weil ich in dieser Zeit
nicht bemerke, dass sie, genau wie ich, ständig an Nummer Drei
denkt.
    Vielleicht verdanke ich meine Blindheit dem Eisregen, der
lange vor dem Einbruch der Dunkelheit fällt. Er verzaubert
Visible in einen glitzernden Kristallpalast, er legt sich auf das
weiße Land wie ein gläsernes Tuch über eine Daunendecke, und
er verwandelt die Stadt der Kleinen Leute in ein Floß, das auf
einem unwirklich gespiegelten, königsblauen Himmel treibt.
Der Eisregen macht auch spiegelglatte Rutschbahnen aus den
Straßen; Tereza und Pascal kommen zwei Stunden später als
geplant zur Silvesterfeier in Visible an.
    »Nur weil du morgen abhaust, sonst hätten wir diese
Schlitterpartie nicht auf uns genommen!«, schnaubt Pascal. Sie
wirft mir ihren Rucksack entgegen – eine Leihgabe für meine
Reise. »Ein Schlafsack steckt auch drin. Aber dass du mir den
bloß nicht mit irgendwelchen Typen einsaust, verstanden?«
    »Oh, Pascal, halt die Klappe! Komm her, Phil.« Tereza drückt
mich fest an sich, dann zieht sie mich an einem Ohr.
»Vorsicht, die sind nur angenäht!«
»Man sollte sie dir trotzdem lang ziehen! Du hättest uns ruhig
früher sagen können, was du vorhast.«
»So früh, wie du mir gesagt hast, dass ihr nach Holland gehen
werdet?«
»Ein Punkt für dich.« Tereza lächelt. »Was willst du
eigentlich mal werden,
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