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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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Arzt mustert mich kurz durch das Fenster,
nickt und verschwindet aus meinem Blickfeld. Sekunden später
ertönt erneut das Summen.
»Hier, zieh das an«, empfängt Dianne mich hinter der Tür.
»Vorschrift.« Sie hält mir einen blauen Kittel entgegen, schlüpft
in ihren eigenen und bindet ihn hinter ihrem Rücken zu.
Ich stelle mich weniger geschickt an als sie. Wie oft ist
Dianne hier gewesen, überlege ich, auf dieser Station, hat einen
solchen sterilen Kittel getragen, während ich der Annahme war,
dass sie zu Spaziergängen aufgebrochen sei? Mindestens
zweimal jede Woche, dutzende Male innerhalb eines Jahres,
und wie viele Jahre waren das? Mein Gott.
»Okay«, sagt Dianne leise. »Komm.«
Die Geräuschkulisse ist gedämpft. Pieptöne aus verschiedenen
Monitoren erfüllen den Raum, das pneumatische Zischen mir
fremder Maschinen, ein entferntes, sprudelndes Gluckern, alles
sehr leise, wie auch die gemurmelten Unterhaltungen zwischen
Ärzten und Krankenpflegern. Kein Gegenstand wirft Schatten
unter dem kalten Neonlicht, das aus unzähligen Röhren
senkrecht von der Decke fällt. Überall stehen weiße Paravents
und verhindern neugierige Besucherblicke auf die dahinter
verborgenen Patienten.
Das Bett, zu dem Dianne mich führt, steht wie vergessen
gleich in der ersten Ecke, es ist am weitesten von allen vom
Schwesternzimmer entfernt. Ein Junge liegt darin. Seine Augen
sind geschlossen. Die Arme liegen wie dürre Äste nackt auf der
Bettdecke.
»Es sieht nicht immer so schlimm aus«, sagt Dianne fast
entschuldigend. »Das mit den Schläuchen, meine ich. Es gibt
einen zentralen Zugang, aber manchmal…«
Ein mit Heftpflaster an den Lippen befestigter, schwerer
Schlauch führt aus dem Mund des Jungen zu einer Maschine,
über deren Monitor sich wie in Zeitlupe von links nach rechts
grüne Kurven schlängeln. Ein dünnerer Schlauch, transparent
und mit einer gelbbraunen Flüssigkeit gefüllt, ist in die Nase des
Jungen eingeführt. Der Körper ist so ausgemergelt, dass man
dessen kantige Umrisse unter der bis an die Brust reichenden
Bettdecke kaum ausmachen kann.
»Das ist Zephyr.« Dianne spricht leise, als habe sie Angst, den
Jungen zu wecken. Er sieht tatsächlich so aus, als würde er nur
schlafen, selbst seine Wangen sind rosig. Er hat keine
sichtbaren Verletzungen. Sein Brustkorb hebt und senkt sich
regelmäßig in dem penibel genau eingestellten Rhythmus, den
die Maschine vorgibt, die seine Lungen mit Sauerstoff füllt und
so ein Ersticken verhindert. Er hat dunkelblondes, sehr kurz
geschnittenes Haar und ein Gesicht, dem es an scharfen
Konturen fehlt, fast so, als hätte das Koma ihn zum ewigen
Kindsein verdammt.
»Zephyr«, wiederhole ich leise. »Das ist nicht sein richtiger
Name, oder?«
»Nein. Es gibt ein Gedicht über den Westwind; Erhebe mich
wie eine Welle, trag mich wie Wolken, wie ein Blatt, bevor ich
blutend auf des Lebens Dornen niedersinke… Na ja, klingt ein
bisschen kitschig.« Dianne sieht mich an. »Er heißt Jan.«
In irgendeinem entfernten Winkel meines Gedächtnisses hat
eine Glocke leisen Alarm geschlagen. Jan – diesen Namen habe
ich schon einmal gehört, flüchtig, vor langer Zeit.
»Wie… wie ist er hierher gekommen?«
»Er hatte einen Unfall.«
»Nicht kürzlich, oder?«
»Nein.« Dianne ist neben das Bett getreten. »Vor über drei
Jahren, im Sommer.«
Sie streckt eine Hand aus und streichelt Zephyr über die
Wange. Es hegt so viel Zärtlichkeit in der Geste, dass ich den
Blick abwende. Ich müsste eifersüchtig auf diesen Jungen sein,
der irgendwo auf der Grenze zwischen Schlaf und Tod
dahindämmert. Auf eine bestimmte Art hat er, wenn auch ohne
es zu wissen, mir meine Schwester weggenommen.
»Er fuhr mit dem Fahrrad«, sagt Dianne. »Und da war ein
Sturm. Er war so heftig, dass es in Visible die Ziegel vom Dach
geblasen hat. Glass musste es danach an allen möglichen Stellen
abdichten lassen. Hinten im Garten ist sogar eine der alten
Statuen umgekippt, ein Engel mit Schwert, kennst du den?«
»Ja.«
Ich betrachte die wenigen Schläuche, die Kanülen, die in die
Handrücken des Jungen geschoben sind und doch aussehen wie
aus ihnen herausgewachsen; künstliche, an die Oberfläche
verlegte Adern und Gefäße, durch die Nährlösungen und Mittel
tröpfeln, die das Blut am Gerinnen hindern.
»Er war auf dem Weg zu mir, nach Visible«, sagt Dianne.
»Ich hatte ihn erst ein paar Wochen zuvor kennen gelernt. Du
warst damals gerade
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