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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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Auld Acquaintance Be Forget an, und wir alle, Gable
mit tiefem Bass voran, fallen ein. Der Himmel über Visible
zerbirst unter einem Feuerwerk, das immer gewaltiger und
immer herrlicher wird. Es macht die Winternacht zum Tag und
es spiegelt sich, verschwommen und seltsam vergrößert, auf
dem vereisten Land und dem zugefrorenen Fluss. Michael hat
Knallfrösche und Kanonenschläge gekauft, ihr Lärm soll die
Geister des alten Jahres vertreiben, und wir begleiten jede
Explosion mit lautem Geschrei.
    Später toben Pascal und Tereza ausgelassen im vereisten
Schnee, der unter ihren Schritten splitternd zerbricht wie feines
Glas. Dianne hat mir versprochen, sich um die Zypresse zu
kümmern. Sie nippt an ihrem Sekt und nickt unentwegt,
während Gable leise auf sie einspricht. Ab und zu lachen die
beiden laut auf. Glass und Michael wiegen sich eng
umschlungen im Halbdunkel der Veranda zu alten Songs von
Billie Holiday. Ich stehe in der Auffahrt, blicke an den Mauern
Visibles empor und wünsche mir, das Haus umarmen zu
können. Noch immer glaube ich, den Boden unter meinen
Füßen schwanken zu spüren, aber ich habe keine Angst mehr
davor, zu stürzen. Es ist ein schönes Gefühl. Es ist das Gefühl
von Leben in Bewegung.

EPILOG
PHIL
    ICH BEUGE MICH über die Reling dieses unvorstellbar
großen Schiffes und starre an der Bordwand hinab, die mit
breiten Rostschlieren bedeckt ist. Gestern war es stürmisch und
so kalt, dass niemand an Deck ging, der nicht unbedingt musste.
Heute ist die Luft mild. Der Himmel kennt weder Anfang noch
Ende, er ist von einem türkisfarbenen Blau, und der auf dem
breiten Rücken des Meeres reitende Wind trägt einen süßen
Geruch. Vielleicht bringt er ihn von Nomoneas mit sich, von
Semisopochnoi oder von Tongapatu. Seit Tagen schmecke ich
Salz auf den Lippen. Irgendwo in meinem Herzen regt sich ein
kleiner Funke Glück.
    Ich wusste, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte,
als ich Nicholas in der Klinik sah. Seine Eltern hatten dafür
gesorgt, dass er in einem Einzelzimmer lag. Er schlief, als ich
die Tür öffnete und vor sein Bett trat, und er trug – womit ich
nicht wirklich gerechnet hatte – tatsächlich eine dieser an
Piraten oder Karneval erinnernden schwarzen Augenklappen.
Die Decke war lose bis über seine Brust gezogen, seine Arme
lagen seitlich ausgestreckt. Ich bemühte mich, seine Hände
nicht zu betrachten. Ich hätte ihn wecken oder darauf warten
können, dass er aufwachte. Das Problem war, dass ich nicht
wusste, worüber ich mit ihm reden sollte. Zwischen uns war
alles gesagt, oder wenigstens das, was ausgesprochen werden
konnte. Der Wunsch, mich von Nicholas zu verabschieden und
ihm mitzuteilen, dass ich nach Amerika gehen würde, war
einzig und allein der törichten Hoffnung entsprungen, dass er
mich bitten würde zu bleiben. Ein einziges Wort von ihm hätte
genügt, mich all meine Pläne über den Haufen werfen zu lassen,
so wie es ein einziges Wort von ihm gewesen war, dass mich
diese Pläne hatte fassen lassen.
    Wie er dort lag, erinnerte Nicholas mich nicht von ungefähr
an Zephyr und an die mit Vernunft nicht zu erklärende Art, wie
Dianne diesen Jungen jahrelang geliebt hatte. Nicholas zu
lieben war genauso unmöglich. Ich sah ihn auf diesem Bett, ein
weißes Gesicht in einem weißen Kissen, der Sammler von
Verlorenem, jetzt selbst verloren, ein Geschichtenerzähler ohne
eigene Geschichte. Und plötzlich sah ich nicht mehr Nicholas,
sondern ein leeres Blatt Papier, das darauf wartete, beschrieben
zu werden. Ich wusste, dass ich das unmöglich würde leisten
können, nicht hier und nicht jetzt. Ich schloss die Augen und
sah Nicholas über das Rot der Aschenbahn laufen, den Blick
konzentriert und starr geradeaus gerichtet, nicht im Gleichklang
mit der Welt und sich selbst, wie ich einmal geglaubt habe,
sondern auf der Suche danach. Vielleicht hätte ich ihm schon
am ersten Tag auf dem Sportplatz entgegentreten, ihn umarmen,
festhalten und am Weiterlaufen hindern sollen. Aber was wusste
ich damals schon? Und eigentlich bin ich mir sicher, dass
Nicholas sich von nichts und niemandem hätte halten lassen.
    Kat wird, falls sich zwischen den beiden etwas Längerfristiges
entwickelt, mit dieser Haltung Probleme haben. Sie mag es
nicht, wenn man sich ihr entzieht. Dass ich gegangen bin, wird
sie treffen wie ein Schock. Weiter kann ich über Kat noch nicht
nachdenken. Es tut zu weh. Ich vermisse sie schon
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