Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
Vom Netzwerk:
wenn du groß bist?«
Der Abend steht ganz im Licht von Gables und meiner
bevorstehenden Abreise. Tereza und Pascal haben vorgekocht
und gebacken, was das Zeug hält, und nehmen sofort,
abwechselnd miteinander lachend und streitend wie immer, die
Küche in Beschlag. Glass und Dianne haben den Küchentisch
ins Kaminzimmer getragen und mit all dem nicht zueinander
passenden Geschirr, den Gläsern und Bestecken aus Visibles
Küche so festlich gedeckt, als gelte es, irgendein
tausendjähriges Jubiläum zu feiern. Michael hat seinen
Weinkeller geplündert und er hat, zur großen Bestürzung von
Pascal, golden und silbern funkelnde Papphütchen mitgebracht,
die mit Gummibändchen unter dem Kinn befestigt werden.
»Man sieht aus wie ein Idiot mit so einem Ding auf dem
Kopf!«, wehrt Pascal ab, als Michael sie am Herd überfällt und
versucht, ihr das Hütchen aufzusetzen.
»Ist eine Frage der Gewöhnung«, erwidert Michael. »Oder
sind wir etwa eitel?«
Pascal grunzt, greift nach einer Karotte und säbelt sie unter
seinen Augen mit einem Messer demonstrativ in zwei Teile.
Michael zuckt in gespieltem Entsetzen zusammen. Als Pascal
später mit Tereza auftischt – eine Fischsuppe als ersten Gang -,
trägt sie das Hütchen noch immer.
Das Essen zieht sich in die Länge. Es ist phantastisch und jede
Minute wert. Der Wein dürfte, auch wenn ich das kaum
beurteilen kann, selbst einen verwöhnten Genießer vom Schlage
Händels zu Oden an die Sonne inspirieren. An die hundert Mal
wünscht jeder Gable und mir, vor allem aber mir, alles Gute.
Wenn überhaupt möglich, so ist die Stimmung noch
harmonischer und gelöster, als sie es schon zu Weihnachten
war. Und heute erzählt Gable nur von Schönheit und Wundern,
ganz so, als wolle er mich vor dem Beginn unserer Reise nicht
noch unnötig verschrecken. Ich nehme mir vor, ihn irgendwann
unterwegs nach seiner Narbe zu fragen.
Ich weiß nicht, warum, aber ich schiebe den Zeitpunkt des
Packens hinaus. Als ich endlich den Tisch verlasse und, Pascals
großen Rucksack im Arm, auf mein Zimmer gehe, ist es bereits
nach elf Uhr. Keine Stunde mehr bis zum neuen Jahr. Morgen
um diese Zeit werden Gable und ich bereits am ersten Ziel
unserer Reise angekommen sein und uns eingeschifft haben. Ich
packe nur das Allernötigste. Gable meinte, ich solle daran
denken, dass ich den Rucksack möglicherweise tagelang,
Kilometer um Kilometer, durch die Gegend schleppe, wenn ich
erst in Amerika bin. Ein letztes Mal betrachte ich die beiden
Wandkarten: Amerika. Die Welt. Ich gehe zum Regal,
streichele die Bonbongläser von Herrn Tröht, Friede seiner
liebevollen Asche, und lege meine Hand an den Platz, auf dem
jahrelang Paleiko gesessen und von dem aus er mich
gleichmütig angestarrt hat. Nach einem letzten Blick aus dem
Fenster auf den Fluss und auf die Lichter der Stadt lösche ich
das Licht und verlasse das Zimmer. In der Eingangshalle stelle
ich den Rucksack ab. Jetzt gibt es nur noch einen Gegenstand,
den ich einpacken werde.
Mondlicht fällt, von Schnee und Eis reflektiert, durch die
hohen Flügelfenster in die Bibliothek. Mehr Helligkeit brauche
ich nicht. Ich gehe an eines der Regale und lasse meine Hand
langsam über die Buchrücken gleiten.
»Du würdest nie ohne ein Buch gehen, oder?«, höre ich Glass
hinter mir sagen.
»Nein.«
Ich drehe mich langsam zu ihr um. Sie sitzt auf meinem Thron
der Geschichten, kaum sichtbar im Halbdunkel. Ihre Hände
verschmelzen mit den Armlehnen. Den Kopf hat sie
zurückgelehnt, in die tiefsten Schatten. Ich kann ihr Gesicht
nicht erkennen.
»Welches nimmst du mit?«
Stella hat nicht viele Bücher hinterlassen, doch es ist eines
darunter, dass ich schon ein Dutzend Mal gelesen haben muss.
Es passt zu der bevorstehenden Schiffsreise, aber ich würde es
auch mitnehmen, wenn ich auf den Mond flöge. Ich ziehe es aus
dem Regal. »Moby Dick«, sage ich in Richtung des Throns.
»Ist es gut?«
»Ja. Es ist…«
Ich halte inne. Plötzlich weiß ich, warum Glass mich hier
erwartet hat. Meine Hände umklammern das Buch und
beginnen zu schwitzen.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagt Glass. »Du fragst mich,
was du wissen willst. Ich werde dir antworten oder auch nicht.
Auf Debatten lasse ich mich nicht ein.«
»Einverstanden.« In meinem Kopf wirbelt alles
durcheinander. Ich atme tief ein und versuche, Ordnung in
meine Gedanken zu bringen. »Gut… Wie heißt er?«
»Nächste Frage.«
»Oh, danke! Ein ermutigender
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher