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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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so vor mir gedemütigt. Und ich habe mich so
geschämt, Phil.«
»Du hättest bei ihm bleiben können.«
»Nein. Ich konnte nicht garantieren, dass dasselbe nicht noch
einmal passieren würde. Und noch einmal, und noch einmal. Ich
hätte ihn immer wieder verletzt. Das hatte er nicht verdient.
Niemand hat so etwas verdient.«
Eine Hand löst sich von der Armlehne des Throns und
verschwindet in den Schatten. Ich weiß nicht, wann Glass
angefangen hat zu weinen. Vielleicht hat sie gerade daran
denken müssen, wie mein Vater sich fühlte, als sie ihn verließ.
Er muss es ihr gesagt haben: Als hätte man ihm die Haut
abgezogen und ihn danach mit Salz eingerieben.
»Konntest du nicht zu… dem anderen?«
»Gordon war an einer schwangeren Frau nicht interessiert«,
kommt die knappe Antwort. »Und ich auf Dauer nicht an ihm.
Wir waren Kinder, Phil. Er wollte seine Freiheit, ich wollte
meine.«
Die Ironie der Geschichte entgeht mir nicht. Jahrelang haben
all meine Gedanken Nummer Drei gegolten. Doch der
eigentliche Grund dafür, dass ich meinen Vater nie kennen
lernen durfte, ist Nummer Vier – der Mann, dessen Name auf
der Liste eine Zeile weiter unten steht. Nein, korrigiere ich
mich, auch das ist falsch. Der eigentliche Grund ist Glass selbst,
die sich Liebe nahm oder das, was sie dafür hielt, wann und wo
immer sie konnte. Und wenn ich erst damit beginne, den Grund
für ihr Verhalten zu suchen, so sind wir damit, oh, so sind wir
damit wieder bei den Leidenschaften und bei der Frage nach
dem Wann und Wo des Beginns aller Dinge. Halten wir uns
also, meine Damen und Herren, lieber an das Ende der
Geschichte, wenn wir nicht durchdrehen wollen.
»Warum hast du es Dianne und mir nie erzählt?«, frage ich in
die Dunkelheit. »Warum hast du ein so großes Geheimnis
daraus gemacht?«
»Wegen Tereza, Darling.«
»Ich verstehe nicht -«
»Ich log sie an«, unterbricht mich Glass. »Als sie mich zum
ersten Mal nach eurem Vater fragte, sagte ich ihr, er hätte mich
sitzen gelassen und so verletzt, dass ich nie wieder darüber
reden wollte. Tereza akzeptierte das und sprach mich nie wieder
darauf an. Stattdessen hat sie mir geholfen und mich auf die
Beine gestellt. Ohne Tereza gäbe es weder dich noch Dianne,
und es gäbe auch Visible nicht. Es gäbe gar nichts.«
»Du hättest es ihr später erklären können. Sie hätte
Verständnis dafür gehabt.«
»Vielleicht… Aber ich schob es vor mir her, und jeder Tag,
der verging, bestätigte mich darin, das Richtige getan zu haben.
Mich als Opfer darzustellen machte viele Dinge leichter. Was
ich habe und was ich bin, beruht auf dieser einen Lüge. Später
begann sie schwerer und schwerer zu wiegen. Aber anfangs
erschien sie mir als kein hoher Preis.«
Stille liegt auf der Bibliothek. Es ist, als würde Visible jedem
Wort von Glass angestrengt nachlauschen. Ich horche in mich
hinein. Ich kann Glass nicht hassen. Wir haben alle für ihre
Lüge bezahlt, Dianne teurer als ich. Doch Glass ist die Einzige,
die sich selbst ihr Leben lang für diese Lüge bestraft hat, mit
jedem Eintrag in ihre Liste, um so sich selbst und anderen zu
bestätigen, dass sie die Bezeichnung verdiente, die sie sich
selbst gab und die irgendein Jenseitiger ihr eines Tages auch
prompt in den Lack ihres Wagens kratzte.
»Du hast Michael davon erzählt, oder?«
»Ja, er weiß es… Es kann sein, dass er nach Visible zieht«,
fügt sie nach einer Weile hinzu.
»Das ist gut.«
»Vielleicht.«
Meine Finger können das Buch nicht mehr halten. Ich stelle es
zurück in das Regal. Meine Hand streift eines der Herbarien und
ich reiße sie zurück, als hätte ich einen elektrischen Schlag
erhalten.
»Mum?«
»Ja?«
»Wie sah er aus?«
»Dianne sieht ihm ähnlich. Ein bisschen. Sie hat seine Haare.«
Zwei offene Handflächen schieben sich in einer Geste des
Bedauerns aus der Dunkelheit. »Es ist verrückt, aber an den
Rest kann ich mich kaum erinnern.«
»Wie heißt er?«
Die Hände sinken herab. »Nein, Phil.«
»Mum, bitte! Ich könnte es versuchen!«
»Das ist keine gute Idee. Er könnte inzwischen verheiratet
sein, eine Frau und Kinder haben, was weiß ich. Würdest du
ihm das kaputtmachen wollen?«
»Das muss nicht so sein.«
»Nein, natürlich nicht. Er könnte auch in irgendeiner Ecke
hocken und dort immer noch auf ein Wunder warten. Er würde
dir einen Schrein errichten. Er würde dich so vergöttern, wie er
mich vergöttert hat. Willst du das?«
Ich senke den Kopf.
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