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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel
Autoren: Die Mitte der Welt
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Einverständnis über Gott und die Welt und
wahrscheinlich auch über die Frauen.
    »Ich verstehe es genauso wenig wie du«, vertraut Tereza mir
in der Küche an, wo wir nach dem Essen gemeinsam Tee und
Kaffee kochen. »Steck zwei einander fremde Männer
zusammen in ein Zimmer, und sie umkreisen einander kurz und
beschnuppern sich wie die Hunde.«
»Und dann?«
    »Dann gehen sie sich entweder an die Kehle, oder sie machen
die Gegend mit ihrem gemeinsamen Gekläffe unsicher.«
Ich sehe zu, wie sie Tassen und Teller auf ein Tablett stapelt.
Auf ihre Umzugspläne habe ich sie noch nicht angesprochen.
Jetzt wäre die passende Gelegenheit, aber ich scheue davor
zurück – der Kinderglaube, dass nichts geschehen wird, solange
man nicht darüber redet, sitzt tief.
»Tereza?«
»Hm?«
»Bist du glücklich mit Pascal?«
»Mal mehr und mal weniger. Aber glücklich genug, um mit
ihr nach Holland zu gehen, falls du das – Phil!« Sie macht einen
Schritt auf mich zu und nimmt mich in die Arme. »Nicht doch,
nicht weinen, mein Kleiner.«
Ich schniefe in ihrer Schulterbeuge herum und bilde mir ein,
den Mandelduft zu riechen, den ihre roten Haare früher
verströmten. Aber es ist Weihnachten, die ganze Welt riecht
nach Mandeln, und Gewohnheiten ändern sich, selbst wenn sich
das nur im Wechsel des Shampoos ausdrückt.
Nach dem Kaffeetrinken brechen wir alle zu einem
Spaziergang auf. Fast automatisch schlagen wir den Weg ein,
der am Fluss entlang zum Großen Auge führt. In kleinen
Grüppchen trotten wir hintereinander durch die blendend helle
Winterlandschaft: Dianne geht eingehakt zwischen Tereza und
Pascal, Glass schlurft Arm in Arm mit Michael durch den
Schnee. Gable und ich bilden das Schlusslicht.
»Wann musst du wieder fort?«, frage ich ihn.
»Neujahr. Ich fahre mit dem Zug nach Norden, abends schiffe
ich mich ein. Und dann wird das Festland mich für eine Woche
nicht sehen.« Er klingt jetzt schon erleichtert, dabei ist nicht
einmal die Hälfte seiner Zeit hier um.
»Wohin fährst du?«
»Amerika.« Gable sieht mich von der Seite an – ich nehme an,
weil er weiß, wie ich auf dieses Wort reagiere.
»Du könntest mitkommen, Phil. Vorausgesetzt natürlich, du
willst.«
Ich bleibe auf der Stelle stehen. Ich kann Gable nur anstarren.
»Ist ein großer Frachter«, fährt er fort, »Autos, elektronische
Geräte, was weiß ich. Die Ladung hat mich nie interessiert.«
»Ich könnte… Du meinst, ich könnte einfach so mitfahren?«
»Für ein Paar zusätzliche Hände müsste noch Platz sein.«
Gable grinst. »Außerdem kenne ich den Käpten.«
»Was ist mit Schule?«
Er sieht mich an, als hege er Zweifel bezüglich meiner
geistigen Gesundheit. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so begeistert war. Das
Herz schlägt mir bis zum Hals, schlägt kräftig und fest wie ein
nie ermüdender Motor, und schon denke ich an Schiffe, an
mächtige Turbinen und gewaltige, die See aufwirbelnde
Schrauben. »Also… Ich denke darüber nach, okay?«
»Lass dir Zeit.«
»Und Glass muss noch nichts davon wissen.«
»Das ist allein deine Sache.«
Auf dem Rückweg sondert Michael sich ab. Er überlässt Glass
den anderen Frauen und geht für eine Weile abseits von uns,
dicht am Fluss entlang. Er lächelt und sieht dabei
gedankenverloren zu Boden, er macht große Schritte, und
manchmal kickt er Schnee vor sich her wie ein kleiner Junge.
Irgendwann lacht er scheinbar grundlos laut auf, so dass ich
mich unwillkürlich frage, wann dieser Mann, den meine Mutter
von Tag zu Tag mehr liebt, gelernt hat, keine Angst vor dem
Alleinsein zu haben.
Zurück in Visible gehe ich in mein Zimmer und betrachte die
alte Weltkarte. Ich ziehe alle über die Meere und Kontinente
verteilten grünen Nadeln heraus, mehr als zwanzig Stück, und
stecke sie auf der Karte Nordamerikas entlang der Ostküste
wieder fest. Ich trete zwei Schritte zurück und betrachte das
grüne, sich windende Band, das mir entgegenleuchtet wie ein
Versprechen. Ich habe öfter davon geträumt, Gable zu
begleiten, als ich zählen kann. Aber da war ich Kind gewesen,
und der Gedanke an das Seefahren kaum mehr als der Wunsch,
tollkühne Abenteuer zu erleben, die Sehnsucht nach dem ins
Unendliche gesteigerten weiten Blick.
Wenn du jetzt gehst, höre ich Paleiko flüstern, ist das wie
Davonlaufen. Eine Flucht.
Nein, das ist es nicht.
Du denkst, es wäre ein neuer Anfang? Wie kann es das sein,
wenn du hier noch
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