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Doktor auf Abwegen

Doktor auf Abwegen

Titel: Doktor auf Abwegen
Autoren: Richard Gordon
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    Als aufopfernder Chirurg und aufrechter Patriot setzte Sir Lancelot Spratt sein ganzes Vertrauen auf den britischen Volksgesundheitsdienst. Bis zu dem Morgen, da die Decke seines Operationssaales einstürzte. Der Tag hatte schon schrecklich genug begonnen.
    Um sechs Uhr früh hatte das Telefon auf seinem Nachttischchen geklingelt.
    «Hier Spratt.» Sein Gehirn arbeitete sofort messerscharf, war es doch ein Leben lang durch die Ankündigung dringender chirurgischer Notfälle wachgerüttelt worden.
    «Sir Lancelot? Guten Morgen!» begrüßte ihn eine freundliche männliche Stimme. «Wie ist das Wetter heute?»
    Sir Lancelots Auge wandte sich prüfend dem Schlafzimmerfenster zu. «Ich würde sagen: klar, bis auf ein paar hohe Wölkchen. Temperatur um die fünfzehn Grad Celsius. Ein schöner Junitag liegt durchaus im Bereich des Möglichen.» Dann brüllte er in den Hörer hinein: «Wenn Sie eine Wettervorhersage wollen, wer immer Sie sind, Sie erbärmliche Nervensäge, dann wenden Sie sich an das Meteorologische Institut, statt den kostbaren Schlaf eines hochbezahlten Chirurgen zu unterbrechen.»
    «Hier spricht Chipps, Sir. Pip Chipps.»
    Sir Lancelots Stöhnen brachte die Wände des Schlafzimmers zum Zittern.
    «Da, wo ich bin, Sir, ist es scheußlich heiß.»
    Sir Lancelots Gesicht hellte sich auf. War’s möglich, daß er mittels einer geheimnisvollen extrasensorischen Wahrnehmung Kontakt mit dem Jenseits aufgenommen hatte? «Wo sind Sie?» fragte er hoffnungsvoll.
    «In Nairobi.»
    «Und was, wenn ich fragen darf, veranlaßt Sie, mich um sechs Uhr früh aus dem finstersten Afrika anzurufen?»
    «Sechs Uhr früh? Oh, tut mir leid, Sir. Hatte ganz den Zeitunterschied vergessen. Wir haben hier soeben unsere Papayas verspeist. Tantchen Florrie schlug vor, ich soll mich mit Ihnen in Verbindung setzen.»
    Sir Lancelots Stöhnen drang viertausend Meilen weit. Tantchen Florrie war Oberin des Privatpatiententraktes im St.-Swithin-Hospital gewesen. Im vergangenen Jahr hatte sie das Heiligen-Grab-Hospital übernommen, eine Zweigstelle des St.-Swithin, dessen Patienten und Studenten etwa zehn Meilen vom Londoner Zentrum entfernt untergebracht beziehungsweise unterwiesen werden konnten. Florrie nährte für Sir Lancelot eine Leidenschaft, die sie für geheim hielt, die aber dem Personal beider Anstalten ebenso vertraut war wie die Menükarte der Kantine. Er würde ihr unausweichlich binnen der nächsten vier Stunden gegenübertreten müssen.
    «Ich komme heim, Sir», kündigte Dr. Philipp Chipps fröhlich durch das Telefon an.
    «Das werden Sie, verdammt noch mal, nicht tun», wies ihn Sir Lancelot mit machtvoller Stimme zurecht. «Sie erinnern sich sehr gut an unsere Abmachung bei der Schlußprüfung. Ich versprach, Sie durchzulassen, wenn Sie sich dann auf der Stelle nach einer Art von klinischem St. Helena verfugten. Ich erachtete Ihr dauerndes Exil, nicht anders als das Napoleons, als eine wesentliche Voraussetzung für das Heil Europas.»
    «Ich komme nur auf Urlaub, Sir», klärte ihn Pip rasch auf. «Wir treffen Montag in einer Woche ein. Sie haben noch nicht die Frau kennengelernt —»
    «Natürlich hab ich das, Sie Narr. Erinnere mich deutlich daran, daß sie mir viel zu gut für Sie vorkam. Ich war in Ihrer Bude hinter der Wäscherei des St.-Swithin eingeladen, es gab Moussaka, und Sie hätten etwas Besseres anbieten können als diese halbe Flasche ungarischen Riesling. Hallo? Hallo? Ist dort noch Nairobi?»
    Langes Schweigen. «Ah - ja, Sir.»
    «Ich höre mit Freuden, daß Sie in Kürze einen erholsamen Urlaub antreten, Chipps. Aber ich verstehe nicht, warum Sie mir dieses Ereignis nicht auf einer Ansichtskarte mitteilen statt unter solchem Kostenaufwand.»
    «Das kommt daher, Sir», fuhr Pip stotternd fort, «weil Tantchen meinte, Sie könnten mir für einen Monat einen lukrativen und nicht allzu anstrengenden Stellvertreterposten verschaffen. Wissen Sie, vielleicht bei einer Arztfamilie, die Ferien machen will. Mir schwebt eine nette Gegend vor», führte Pip aus. «So etwas wie die Cotswolds vielleicht? Die Küste? Auch das schottische Hochland würde mir Zusagen. Ja, richtig, und ein Ort, wo meine Frau und ich über einem Laden wohnen können. Sehen Sie, ich verdiene hier in Kenia nicht genug, um Ersparnisse für teure Ferien zurücklegen zu können. Meine Arbeit ist an sich Lohn genug. Sagt man zumindest.»
    «Ich bin kein Ärzte-Stellen-Vermittlungsbüro. Und wär ich’s, würde ich Ihnen nicht
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