Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
Vom Netzwerk:
Amsterdam zurück, um dort eine Praxis zu eröffnen. Er war kein Facharzt für Anatomie, sondern Allgemeinarzt und konnte daher sowohl Medikamente verschreiben als auch Operationen vornehmen. Einige Jahre bevor die aus der Türkei eingeführte Tulpe in der niederländischen Republik eine landesweite Manie wurde und schließlich die erste ökonomische Blase auslöste, machte er sie zu seinem Symbol und platzierte sie an seinem Haus und auf seinem Wappen. Er wählte sogar seinen Namen dementsprechend: Von nun an war er der erfolgreiche Doktor Tulip. 1628 stieg er zum Praelector der Chirurgengilde auf. Im Januar 1631 führte er seine erste öffentliche Sektion durch. Rembrandts Gemälde zeigt den beinah Vierzigjährigen, der inzwischen zum Ratsherrn gewählt worden war, ein Jahr später auf der Höhe seiner Macht und seines Ansehens bei seiner zweiten anatomischen Vorführung.
    Tulps Persönlichkeit ist auch der Schlüssel zum Verständnis des Gemäldes. Denn natürlich ist es nicht einfach ein Gruppenbild. Die Gesichter der versammelten Chirurgen strahlen in der Januarkälte großes Selbstbewusstsein aus. Wie ein gezeichnetes Daumenkino lassen sie sich von links nach rechts lesen: Sie drücken eine Folge von Zuständen aus, vom einfachen Beschauen über die intellektuelle Durchdringung bis zu so etwas wie göttlicher Erleuchtung. Tulp selbst glüht im Lichte seiner religiösen Überzeugungen. Rembrandts Inszenierung lässt ihn metaphysische wie wissenschaftliche Wahrheiten verkünden. Dazu passt auch die Betonung der Hand. Der Mensch kann noch so geschickt und gewandt, erfinderisch und gewitzt sein, als Chirurg, Maler oder Taschendieb, sterben muss er trotzdem. Der Mensch ist lebendig und sterblich. Er erschafft und er ist von Gott erschaffen.
    Damit auch wirklich jeder versteht, worum es geht, zeigt der hinterste Chirurg auf die Leiche und schaut uns direkt, fast anklagend, an. Haben wir unsere Lektion auch wirklich gelernt?
    Der erste sezierte Körper, den ich sehen sollte, überraschte mich. Es war eine Frau. Anatomische Texte beschäftigen sich meist mit Männern, weil einerseits Anatomen und Chirurgen und andererseits auch die Delinquenten meist Männer waren. Zwar standen der frühen Medizin nie genug Körper zur Verfügung, doch unter denen, die zugänglich waren, gehörten überdurchschnittlich viele zur Gruppe der gesunden jungen Männer. Illustrierte anatomische Texte strotzen geradezu vor muskulösen männlichen Jugendlichen.
    Es blieb nicht bei der einen Überraschung. Die vor mir liegende Frau starb offenbar in hohem Alter. Ihre Haut war gipsfarben, wie ein Hühnchen, das zu lange im Gefrierfach gelegen hatte. Der größte Schock war, dass ihr Kopf aufgeschnitten war, und zwar nicht, wie man das erwarten würde, am Hals, sondern durch das Kinn, weil man die Zähne und den Rest des Kopfes für weitere Studien zurücklegen wollte. Übrig war also fast nur der Unterkieferknochen.
    Nun liegt sie in einem offenen Leichensack auf einem der zwölf Stahltische im Sektionssaal der Oxforder medizinischen Fakultät. Der Saal ist weiß und hell erleuchtet durch das schwache, durch längliche Fenster einströmende Sonnenlicht und fluoreszierende Lampen. Das einzig Unmoderne sind die Skelette, die zwischen den Tischen an Gestellen baumeln. Später sehe ich mir das Foto eines Sektionssaals aus dem 19.

Jahrhundert an, und dort gab es die gleiche Abfolge von Tischen und Skeletten. Die Tische waren aus Holz und die Körper in Leinentücher gehüllt, aber sonst hat sich nicht viel verändert.
    Anwesend bin ich auf Einladung der Ruskin School, an der Zeichnen und Bildende Kunst gelehrt werden. Um mich herum stehen Kunststudenten im ersten Semester. Ruskin ist heute die einzige Kunstschule in England, die ihre Studenten zum Zeichnen indie Anatomie schickt. Früher gehörte das auf den Lehrplan jedes angehenden Malers. Ich folge also eher Rembrandts Fußstapfen als Doktor Tulps.
    Wer zeichnen will, muss sehen lernen. Auch ich will versuchen zu zeichnen, was ich sehe. Unsere Dozentin, Sarah Simblet, ist Künstlerin und Wissenschaftlerin. In ihrer Doktorarbeit analysierte sie die Wechselbeziehungen zwischen dem Zeichnen und dem Sezieren, die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen Stift und Skalpell. Sie ist an diesem kalten Januartag hierher geradelt, ihre Wangen glühen wie die von Doktor Tulp und seinen Chirurgenkollegen.
    Sarah erklärt, dass die Körper, die wir zeichnen werden, von der örtlichen Bevölkerung
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher