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Die Totenfrau des Herzogs

Titel: Die Totenfrau des Herzogs
Autoren: Dagmar Trodler
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ERSTES KAPITEL
    Was da ist, ist längst mit Namen genannt, und bestimmt ist, was ein Mensch sein wird.
Darum kann er nicht hadern mit dem, der ihm zu mächtig ist.
    (Prediger 6,10)
     
     
    D as Lied der Nachtigall glich einer verhaltenen Klage.
    Einsam saß sie irgendwo zwischen den Ästen des Olivenbaums, ein kleiner, unscheinbarer Vogel, in seinem grauen Federkleid perfekt mit den silbrigen Blättern verschmolzen. Aus diesem Versteck warf er seine feine Stimme mutig der Nacht entgegen. Perlend rollten die Töne am Mond entlang, tropften zur Erde herab. Sie schmolzen zu Tränen, erwuchsen aus tiefer Kehle und verwandelten sich in Schluchzer, die von der leisen Melodie aufgefangen wurden wie von einem zart gewebten Gespinst aus Hoffnung …
    Ima lehnte sich gegen die Mauer. Die Steinstufen hatten die Hitze endgültig an die Nacht abgegeben und sich für den neuen Tag gereinigt und bereit gemacht. Ihre Kühle ließ Ima erschaudern, doch nicht genug, um aufzustehen. Eigentlich war sie sehr müde. Nachdem sie die halbe Nacht bei einer schweren Geburt Beistand geleistet und das Leben der Mutter nur mit knapper Not gerettet hatte, war ihr der Weg ins Bett zu schwer gefallen. Viel zu aufgewühlt hatte sie auf der Treppe einen Becher Wein getrunken, um zur Ruhe zu kommen, und war ins Träumen geraten, als
die Nachtigall zu singen begonnen hatte. Vielleicht war sie auch darüber eingenickt.
    Ein früher Morgenwind ließ sie erschaudern, und sie zog die Tunika enger um ihre Schultern. Man fror immer, wenn man müde war, doch Müdigkeit lähmte auch, und so fror man lieber, als dass man sich bewegte. Seufzend zog sie die Beine noch dichter an den Leib. Sanft klang die Stimme der Nachtigall. Sie streichelte ihre müden Sinne, verständnisvoll und beruhigend. Die Perlen netzten ihre Wangen. Das Lied aus den Bäumen war wie die Tropfen einer wohltuenden Medizin, und so blieb sie sitzen, wo sie sich vor Stunden niedergelassen hatte, um nachzudenken und in die Nacht hinauszuträumen, die Gedanken schweifen und sich von der Medizin heilen zu lassen.
    Der Jasmin in Trotas Garten duftete betäubend. Alle paar Wochen wurde er von Ûder salernitanischen Ärztin sorgsam beschnitten, weil er sonst drohte, ihr kleines Krankenhaus zu überwuchern. Darüber schien er jedoch eher zu spotten und wuchs nach jedem Schnitt nur noch üppiger. Ima lachte leise. Wenn man ihn hochband, störte er längst nicht so und würde sogar in den Himmel wachsen und von dort seinen Duft auf den Garten zerstäuben. Doch das glaubte die Ärztin ihr nicht.
    Sie glaubte ihr vieles nicht, was die Pflanzen betraf, dabei hatte Ima das von der Mutter gelernt - in den einsamen Jahren auf Lindisfarne, nachdem der Vater die Familie verlassen hatte. Damals hatte sich das Gebet der Mönche von St. Cuthbert mit dem ewigen rauen Wind des Nordmeeres vermischt, und die Wellen waren das einzig Unberechenbare in ihrem Leben gewesen: Man hatte nie sagen können, wie weit sie an den Strand rollten und was sie alles mitzunehmen gedachten.
    Manches ließen die Wellen auch liegen - Tang, Muscheln. Treibholz. Walknochen. Erinnerungen. Ihren Verlobten hingegen
hatten sie auf den Meeresgrund gezogen und viele Tage später erst stumm zurückgebracht. Den Vater hatten sie für immer geraubt. Niemand auf der Insel hatte ihn wiedergesehen, und die Mutter war über den Verlust beinah wahnsinnig geworden … Als Ima ihn dann vor einigen Monaten völlig überraschend wieder getroffen hatte, war es ihr kaum möglich gewesen, mit ihm zu sprechen. Sich von den Wellen davontragen zu lassen war ihr wie ein Verrat vorgekommen. Aber das alles lag lange zurück, und mit der Zeit verblasste die Erinnerung an die Wellen von Lindisfarne. Es tat nicht gut, zu oft daran zu denken.
    Zu weit hatten die Wellen vergangenes Jahr auch sie selbst von Lindisfarne fortgetragen. Zuerst hatten sie sie nach Süden gespült, auf eine Pilgerfahrt, deren Ziel - Santiago de Compostela - sie nie erreicht hatte, weil das Schicksal ihr erneut einen geliebten Menschen aus den Händen gerissen hatte. Ein düsterer Schatten hatte über dem Jahr des Herrn 1084 gelegen. Wie eine Feder auf dem Wasser war sie umhergetrieben und unfreiwillig in Apulien im Herzogtum des Normannen Robert Guiscard gelandet. Dort hatten sich die Ereignisse überschlagen und sie mit dem apulischen Heer nach Rom gerissen, wo Robert Guiscard mit einem Feldzug von beispielloser Skrupellosigkeit den Papst aus römischer Gefangenschaft befreit hatte. Die
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