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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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stammen und der medizinischen Forschung zur Verfügung gestellt wurden. (Die Körper von ehemaligen Mitgliedern der medizinischen Fakultät werden an andere Orte versandt, um den eigenen Kollegen unliebsame Überraschungen zu ersparen.) Das hat Vorteile – wie das Geschlechtergleichgewicht. Allerdings gehören die meisten Körper jetzt Menschen, die an Altersschwäche gestorben sind. Viele jung Verstorbene werden obduziert, sodass ihre Körper später nicht mehr „nutzbar“ sind.
    Wir ziehen uns weiße Kittel und Gummihandschuhe an. Sarah versichert uns, dass alles, was wir sehen, „absolut unbeweglich“ ist und dass wir nichts berühren müssen. Die Spannung steigt. Zwei Studenten reden sich spaßeshalber als „Herr Doktor“ an. Eine Studentin fragt sich laut, ob sie auf das Mittagessen hätte verzichten sollen.
    Um uns Schritt für Schritt auf unsere Aufgabe vorzubereiten, zeigt uns Sarah zunächst eine Kiste voller Knochen. Die Studenten haben sich anhand von Skeletten schon mit den Grundzügen der Anatomie vertraut gemacht, aber die meisten haben hier zum ersten Mal mit echten Körperteilen zu tun. „Bedienen Sie sich“, sagt sie und nimmt sich selbst ein paar heraus. Sie hält ein Schulterblatt hoch, das so dünn ist, dass man hindurchschauen kann, und zeigt uns an den Kanten der größeren Knochen, wo früher Muskeln ansetzten. Ich hatte schon früher Knochen in der Hand gehabt, bin aber auch jetzt wieder erstaunt, wie leicht sie sind.
    Dann betreten wir den eigentlichen Sektionssaal. Auf den Tischen am Fenster liegen ganze Körper, die schon weitgehend von Studenten der Chirurgie seziert wurden. Auf den übrigen Tischen liegt eine Vielzahl von Rümpfen und Gliedmaßen, von denen teils die Haut, teils auch Unterhautgewebe weggeschnitten wurde. Dabei handelt es sich um sogenannte Prosektionen, also die durch einen Dozenten vorgenommene Entfernung wichtiger Körperteile zur Unterrichtung derjenigen Studenten, die nicht selbst das Messer ansetzen.
    Auf dem ersten Tisch, um den herum wir uns sammeln, liegt die alte Frau. Ihre Haut ist so angeschnitten, dass man sie von der Brust lösen kann, wodurch eine dünne Schicht gelben Fettgewebes zum Vorschein kommt. Wir sehen die Muskeln, die die Brüste mit den Rippen verbinden. Aus den Muskeln werden Sehnen. Sarah zeigt uns, dass die Sehnen „so eine schöne, silbrige Anmutung“ besitzen. Rippen und Brustbein wurden sorgfältig aus dem Rest des Skeletts freigesägt. Mit der Begeisterung einer Lehrerin wischt sich Sarah die blonden Haare aus dem Gesicht – vielleicht hätte sie sich eher einen Zopf machen sollen? – und schaut in die Brusthöhle. „Da haben wir ja Glück dieses Jahr“, freut sie sich. „Das sieht doch gut aus.“ Sie hebt die Lunge der Frau heraus, den rechten Flügel mit den drei Lappen, den linken mit zweien. Das schwammartige Gewebe ist bläulich. Die Frau kommt also vom Lande. (Stadtlungen sind schwarz, wie ich beim Besuch einer innenstädtischen Londoner Uniklinik feststellen werde.) Mit beiden Händen hält Sarah die Lunge hoch und zeigt uns, wie die beiden Flügel wie die Teile eines Abgusses zusammenkommen, wobei ein Hohlraum für das Herz frei bleibt. Dann zieht sie den Herzbeutel – eine becherartige Membran, die das Herz an Ort und Stelle hält – zurück, und wir sehen das Herz.
    Auch der zweite Körper ist der einer Frau. Sie ist stämmiger. Durch die Dämpfe der Flüssigkeit, die die sezierten Körperteile vorder Verwesung schützen soll, dringt der dünne, ranzige Geruch, den die langsame Oxidation von Körperfett freisetzt. (Wirklich fettleibige Menschen werden nicht seziert, weil das Fett aus anatomischer Sicht reiner Abfall ist und seine Entsorgung zu viel Aufwand bereitet.) Ihre Lungen sind hoch in die Brust verschoben, was womöglich auf eine Krankheit schließen lässt, vielleicht auf eine vergrößerte Leber, aber auch eine ganz natürliche Variation sein könnte.
    Der dritte Körper gehört einem Mann. Auf seinem rechten Arm erkennt man eine Tätowierung, ein Herz und ein Schwert. Er hat noch sein Brusthaar. Ich merke, wie es mir wegen dieser Identitätsmerkmale deutlich schwerer fällt, seinen Körper als seelenlose Leiche zu betrachten. Sein Fleisch scheint dunkler als das der Frauen, weil sein Blut nicht richtig abfloss. Er ist füllig, daher hatte sein Herz sich vergrößert, um weiterhin Blut durch die verstopften Arterien pumpen zu können.
    Beim Anblick der Körper fällt mir auf, dass die wichtigen Organe
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