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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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unter Druck stehenden Ermittler, der unbedingt den Mörder finden muss. Und den Pathologen, der dem toten Körper den entscheidenden Hinweis entlockt – methodisch, ungerührt, stillvergnügt. Der Pathologe besitzt stets die nötige kritische Distanz, um das Verbrechen aufklären zu können. Aber dass wir einen toten Körper gezielt untersuchen, nur um herauszufinden, woran er gestorben ist oder welche Krankheiten er hatte, ist eine recht neue Entwicklung. „Autopsie“ bedeutet wörtlich: mit eigenen Augen sehen. Mit dem Öffnen von Leichen hatdas Wort etwas zu tun, seit im alten Griechenland die ersten anatomischen Studien der westlichen Welt stattfanden und man sich freute, Organe und andere Körperteile mit eigenen Augen sehen zu können.
    Was wir mit eigenen Augen sehen, ist allerdings immer der Körper eines anderen. Auf dem frommen Schild im anatomischen Theater steht zwar „NOSCE TE IPSUM“ – Erkenne dich selbst. Aber streng genommen können wir niemals unser eigenes Inneres ans Licht zerren. Vielleicht können wir sogar gerade aufgrund dieser Unmöglichkeit an unsere Unsterblichkeit glauben. Wir können nicht sehen, wie wir sind, weder innerlich (weil wir erst tot sein müssten) noch äußerlich (weil wir aus unserem Körper nicht herauskönnen). Also müssen wir uns damit begnügen, andere Körper in der Annahme anzuschauen, dass sie wie unser eigener sind. Das ist ein großer Schritt. Nicht nur unsere eigene Sterblichkeit müssen wir akzeptieren, sondern auch die grundlegende Einheit des Menschengeschlechts.
    Mit der Hilfe eines privilegierten Spezialisten, der uns über die Schulter schaut und die Sehenswürdigkeiten zeigt, kann freilich jeder von uns eine Autopsie durchführen. Wie wir sehen werden, haben nicht nur Ärzte, sondern auch Philosophen, Künstler und Schriftsteller uns einige Wahrheiten über den Körper mitzuteilen.
    Doch alles der Reihe nach. Zur Orientierung brauchen wir zuerst eine Karte.

TEIL 1: DAS GANZE
Ein Atlas des Körpers
    Während eines Griechenlandurlaubs wies mich ein Fährschiffer auf den Berg Kimomeni hin, der auf dem Festland gegenüber der pittoresken Insel Poros liegt. Kimomeni bedeutet „schlafende Frau“, und sobald man das weiß, kann man in der Hügelkette tatsächlich nur noch diese Form sehen, vor allem abends, wenn die Sonne im Sinken begriffen ist, die Konturen klar hervortreten – und der Retsina-Pegel steigt. Die Gesichtszüge sind gut erkennbar, die Brüste ragen in den Himmel, der Bauch unterhalb der Rippen ist flach. Die Beine sind angewinkelt, sodass das Knie einen neuen Gipfel formt. Das ist natürlich eine Touristenfalle, aber andererseits sehen die Hügel eben so aus. Die schlafende Frau ist älter als die Akropolis. Schon die alten Griechen haben die Reisenden auf sie aufmerksam gemacht – vielleicht hat sogar der aus dem fünfzig Kilometer entfernten Athen stammende Plato die Schlafende einmal erwähnt.
    Schlafende Frauen gibt es auch in Thailand, in Mexiko und andernorts, manche mehr, manche weniger überzeugend. Die schottischen Papshügel ähneln angeblich, wie so viele andere, weiblichen Brüsten. Einzelne Felsen vergleicht man auch mit mythischen Gestalten, zum Beispiel Lots Weib. In den kalifornischen Bergen liegt Homer’s Brow, Homers Stirn. Wer sich die Karte einer auch nur einigermaßen abwechslungsreichen Gegend vornimmt, entdecktganz sicher irgendetwas, was nach einem Teil des menschlichen Körpers benannt ist. Anatomisch-geografische Vergleiche florieren auch im Zeitalter der exakten Kartografie und der Luftaufnahmen: Die „Hand von Michigan“ ist der fäustlingsförmige Teil jenes US-Bundesstaates, der sich nordwärts zwischen den Michigan- und den Huronsee schiebt.
    Den Idealkörper fanden die Griechen allerdings nicht zu ebener Erde, sondern am Himmel. Der Mensch sei eine verkleinerte Nachbildung des Universums, so meinten sie. In Platos Metaphysik entsprach dem Makrokosmos, also der „Weltordnung im Großen“, der Mikrokosmos des menschlichen Körpers. Zu jener Zeit ordnete man bestimmte Körperteile den verschiedenen Sternbildern zu (gemäß dem Lauf des astronomischen Jahres vom Sternbild Widder für den Kopf bis Fische für die Füße).
    Die Vorstellung vom menschlichen Körper als Mikrokosmos ist uralt – in hinduistischen und buddhistischen Traditionen taucht sie ebenso auf wie im Westen, auch nach der Christianisierung. Das mit der Renaissance aufkommende naturwissenschaftliche Denken, das nach und nach viele
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