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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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so geformt sind, dass sie gut nebeneinanderpassen. Diese Passgenauigkeit könnte zu Rückschlüssen auf eine bewusste Gestaltung verleiten, und nach Meinung früher Anatomen wie sicher auch Doktor Tulp waren sie ein Indiz für Gottes Schöpfungstätigkeit. Meine anfängliche naive Frage, ob es Organe gebe oder ob sie kulturelle Erfindungen seien, scheint beantwortet. Die Organe sehen jeweils verschieden aus und unterscheiden sich von anderem Gewebe. Sie besitzen eine jeweils charakteristische Farbe, Stofflichkeit und Dichte. Wie bei den Plastikmodellen kann ich sie nacheinander herausnehmen und wieder zurücklegen. Es ist ein befriedigendes Gefühl, eine Leber unter dem Zwerchfell hindurchzuschieben oder einen Lungenflügel hinter das Herz zu drücken, da das jeweilige Organ sich wieder so feucht in seine Höhle schmiegt wie früher im Leben. Nach einigen weiteren Körpern wird mir klar, dass sich Menschen innerlich mindestens ebenso sehr unterscheiden wie äußerlich. Unter der Haut sind wir nicht identisch. In der inneren Morphologie gibt es große Unterschiede, die – könnte man sie inder äußeren Welt wahrnehmen – bestimmt für Kommentare, Missmut, Ekel oder Diskriminierung sorgen würden. Im Inneren bemerkt sie nicht einmal ihr Eigentümer. Was sagt uns das über unser Menschsein?
    Die Prosektionen sind ein Sammelsurium: ein paar Herzen, ein wie die Türen eines Schranks geöffneter Brustkorb, eine grünliche Gallenblase, Nieren, die durch ihre Harnleiter mit der Blase verbunden sind, ein Uterus mit Eierstöcken und Eileiter. Der Darm ist nicht, wie in Comics, eine Kette von Würsten, er wird von einem feinen Netz von Blutgefäßen durchzogen. In einem Herzen erinnert ein Plastikröhrchen an eine frühere Operation. Ein Schädel wurde entlang der Nähte gesprengt, an denen sich die beiden Teile in der frühsten Entwicklungsphase verbunden haben. Man tut dies, indem man den Schädel mit trockenen Erbsen füllt und diese dann in Wasser tränkt, sodass sie sich vollsaugen, vergrößern und die Schädelteile langsam auseinanderschieben. Einige Prosektionen liegen seit Jahren hier. Präserviert sind sie in einem flüssigen Gemisch aus Alkohol, Formaldehyd und Wasser, das einen scharfen Geruch erzeugt, der einem noch nach Stunden in den Kleidern hängt. Das Muskelgewebe ist faltiger als das der sezierten Körper. Mit Schrecken stelle ich fest, dass das Fleisch wie langsam gegartes Tierfleisch aussieht. Ein Stück Rückenmark befindet sich seit 150 Jahren hier – sorgfältiger könnte man es auch heutzutage kaum präparieren.
    In den acht Stunden ihres Kurses behandelt Sarah einen Körperteil nach dem anderen: Schulter und Arm, Unterarm und Hand, Rumpf usw. In der zweiten Woche geht es um Kopf und Hals. In einem Tank befinden sich etwa ein Dutzend Köpfe, und jeder von uns wählt einen aus. Ein alter Mann mit spitzem Kinn und weichen, weißen Stoppelhaaren besitzt eine zur Seite gebogene römische Nase. Seine Zunge schaut etwas heraus. Das Gesicht ist ausdrucksstark und erinnert mich an das eines gotischen Wasserspeiers. Aus einem anderen Kopf wurden das Gehirn und das Fleisch um die Augen entfernt, sodass die Augäpfel völlig frei im Schädel zu hängen scheinen. Der Kopf eines anderen Mannes wurde der Längenach aufgeschnitten, einschließlich des roten Schnurrbarts. Auch von seinem halben Gesicht lässt sich ohne Weiteres auf sein früheres Aussehen schließen, und ich beginne darüber nachzudenken, welche Bedeutung die Symmetrie für den menschlichen Kopf und den Körper hat.
    Am menschlichen Kopf lernt sich das Zeichnen wunderbar. Zum einen sind die Formen schwierig. Und dann sind da noch die Charakterspuren im Gesicht. Es gilt, aus dem toten Fleisch Lebendiges heraufzubeschwören. Das ist eine Herausforderung, vielleicht sogar die Pflicht eines Künstlers: sein Motiv von den Toten zu erwecken. Die vielen Einzelheiten lassen sich nicht alle darstellen. Der Künstler muss vor allem vereinfachen. Was soll man zeigen, was weglassen? Was genau will man eigentlich zeichnen? Geht es um eine leblose Kuriosität, um eine Allegorie menschlicher Eitelkeit, um eine wissenschaftlich präzise Illustration?
    Sobald die Studenten zu zeichnen beginnen, verstummt das Witzeln. Ich habe mir einen flach auf dem Tisch liegenden Kopf mit Schultern herausgesucht. Das Gesicht ist weitgehend intakt und leicht von mir abgewandt. Haut, Fett und einige Wangenmuskeln fehlen, der Hals wurde so bearbeitet, dass viele Blutgefäße und
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