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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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schlimmsten stinkenden Teile des Verdauungstrakts freizulegen und rasch zu entfernen. Rembrandt zeigt uns stattdessen Adriaanszoons heilen Rumpf. Nur vom linken Unterarm wurde die Haut abgezogen, sodass wir Muskeln und Sehnen sehen. Rembrandt und Tulp haben sich entschieden, uns die sezierte Hand des Straftäters zu zeigen. Warum diese Geschichtsfälschung?
    Vieles spricht dafür, dass Rembrandt dabei war, als man ’t Kint nach und nach zerlegte. Vielleicht hat er vor der Sektion ein paar Skizzen von Adriaanszoons Körper anfertigen können. Möglich ist, dass er Unterarm und Hand erst später nach einem anderen Körper zeichnete. Oder er malte diese Körperteile in seinem Atelier, denn dort lagerten, wie ein Besucher 1669, kurz vor Rembrandts Tod, feststellte, „vier Arme und Beine mit abgezogener Haut, wie Vesalius sie zeigt“. Möglicherweise gehörte die rechte Hand auf dem Bild gar nicht zum selben Körper. Adriaanszoons rechte Hand war unter Umständen bereits als Strafe für frühere Verbrechen entfernt worden, und Rembrandt könnte sie nach einem anderen Modell gemalt haben. Röntgenbilder lassen vermuten, dass der rechte Arm auf dem Bild zunächst ein Stumpf war, und nach Meinung von Experten sind die manikürten Finger „sicher nicht die eines Diebes“.
    Der Schein trügt also auf Rembrandts frühem Meisterwerk. Um zum Gegenstand des Gemäldes werden zu können, musste Adriaanszoons Körper zwei unliebsame Prozeduren über sich ergehen lassen: Erst wurde er von einem Arzt auseinandergenommen, dann wie Frankensteins Monster von einem Maler wieder zusammengesetzt. Beides war erst möglich, seit der Körper als etwas wahrgenommen wurde, was man wie eine Abstellkammer oder eine Schatztruhe öffnen kann – eine Ansammlung und ein Behältnis wundersamer und erstaunlicher Teile.
    Zwischen der Veröffentlichung von Vesalius’ anatomischer Abhandlung 1543 und Rembrandts Gemälde von 1632 war die menschliche Anatomie ein Modethema. Mit der Eroberung Konstantinopels imJahre 1453 durch die Osmanen gelangte das medizinische Wissen aus Arabien und der Antike nach Europa. Und auch das Verbot, Leichen zu öffnen, war inzwischen gelockert worden. Papst und weltliche Herrscher gestatteten die Sektion der Körper von Hingerichteten zu medizinischen Zwecken. Nun konnte man alles auseinandernehmen und „anatomisieren“, physisch und philosophisch. John Donne bekannte in seinen Devotions : „Ich habe meine eigene Anatomie aufgeschnitten.“ Der depressive Robert Burton publizierte seine Anatomie der Melancholie. William Shakespeares König Lear rief verzweifelt aus: „Dann sollen sie Regan den Leib aufschneiden und sehn, was um ihr Herz herum wächst.“
    Keine Universität mit einer medizinischen Fakultät, die etwas auf sich hielt, kam mehr ohne Anatomietheater aus. In protestantischen Gegenden baute man viele Kapellen zu solchen Theatern um, was nicht unbedingt anzeigt, dass eine atheistische Wissenschaft an die Stelle der Religion tritt, aber doch, dass die Kirchen die neuen Methoden akzeptierten. Auch in Leiden, wo Rembrandt aufwuchs und Tulp studierte, wurde 1596 ein Anatomietheater eingerichtet, das beide mit Sicherheit kannten. Im Boerhaave Museum mitten in der Stadt befindet sich heute eine schöne Rekonstruktion. Der Rundbau mit seinen steilen Rängen sollte möglichst vielen Zuschauern erlauben, der auf einem drehbaren Tisch in der Mitte vorgenommenen Sektion beizuwohnen. Ausgeschmückt wurde das Leidener Theater mit Skeletten, darunter einem menschlichen Reiter auf einem Pferdeskelett, das auf hohen Stelzen stand. Die makabre Dekoration ist noch auf einer Radierung aus dem 17.

Jahrhundert zu sehen. Das Publikum auf diesem Bild besteht zum Teil aus Gerippen, die Banderolen mit Aufschriften wie „MEMENTO MORI“ und „NOSCE TE IPSUM“ halten. Das 1619 in Amsterdam eingerichtete Theater, in dem Tulp als Arzt tätig war, sah ähnlich aus. Das Theater gibt es schon lange nicht mehr, aber seine Aufschrift „THEATRUM ANATOMICUM“ hängt noch über dem Eingang zu einem der Türme des Antoniustores – der heutigen „Waag“ –, wo es sich einmal befand.
    Doktor Tulp war Pionier und führendes Mitglied einer angesehenen Berufsgruppe – und er hatte hart dafür gearbeitet. Der Sohn eines calvinistischen Tuchhändlers schrieb sich als Nicolaes oder Claes Pieterszoon an der Leidener Universität ein. Er schloss eine medizinische Ausbildung ab, promovierte über die Cholera und kehrte in seine Heimatstadt
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