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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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erinnert er uns daran, dass der Körper und seine Teile bei genauerer Betrachtung lustig sind, vielleicht sogar lächerlich.
    Auch ohne den Rest des Körpers können sich Organe oder Teile von ihnen auf besorgniserregende Weise vermehren und eigenartige neue Möglichkeiten entwickeln. In Gargantua und Pantagruel beschreibt Rabelais eine Stadtmauer aus Vulven. „Ich habe bemerkt, daß die Venusmäulchen der Weiber hierzulande viel wohlfeiler sind als die Steine“, stellt Pantagruels Begleiter Panurge fest. „Man müßte also daraus die Mauern aufrichten, und zwar in schönsterarchitektonischer Ordnung: die ganz großen unten, die mittelgroßen, wie ein Eselsrücken spitz zulaufend, in der Mitte und die ganz kleinen oben.“ Ein um 1600 gegen Ende ihrer Regierungszeit angefertigtes Porträt von Königin Elisabeth I. stellt sie mit einem Kleid voller Augen und Ohren dar, als Oberhaupt eines allwissenden Staates. Der Künstler Marcus Harvey erregte Aufsehen mit einem überdimensionalen Porträt der Kindermörderin Myra Hindley, das er aus verkleinerten Abdrücken von Kinderhänden zusammensetzte. Für das Werk benutzte er eine in den Medien während des Prozesses häufig gezeigte Fotografie. Stand ihr das Böse ins Gesicht geschrieben? Und hat eine Kinderhand etwas Unschuldiges? Durfte man beides zusammenbringen?
    In diesem Buch geht es um unsere Körper, ihre Teile und ihre Bedeutungen. Und es geht um die Grenzen des Körpers und unsere Versuche, diese zu erweitern – wohl zu keinem Zeitpunkt haben wir das so nachdrücklich versucht wie heute. Statt „erweitern“ sollte ich wohl „verschieben“ sagen, denn wir mögen zwar glauben, dass wir die Grenzen des Menschen immer weiter nach außen verschieben, doch treten wir von Zeit zu Zeit auch einen taktischen Rückzug an. Dann verschieben wir die Grenzen in die andere Richtung. Wir glauben gerne an unsere Allmacht, möchten aber unsere Schmerzempfindlichkeit nicht allzu sehr auf die Probe stellen und unseren Geruchs- oder Tastsinn am liebsten gar nicht gebrauchen. Wir wollen möglichst lange leben – oder einfach dem Tod ein Schnippchen schlagen? Wir träumen davon, dass es eines Tages möglich sein wird, unseren Körpern zu entkommen und transformiert und dematerialisiert weiterzuexistieren – die jüngsten oder angekündigten Fortschritte der Biomedizin scheinen in diese Richtung zu weisen. Tatsächlich aber fantasieren wir darüber schon immer.
    Zentral ist auch die Vorstellung von unserem Körper als Territorium, das wir entdecken, erschließen und erobern können. Diese mächtige Metapher gab es schon immer, in Shakespeares Dramen und in dem Spielfilm Die phantastische Reise von 1966, in dem eine Crew verkleinerter Menschen durch den Körper eines Mannes reist,um sein Leben zu retten. So funktioniert schließlich Wissenschaft: Nachdem ein neuer Bereich entdeckt wird, teilt man ihn auf und steckt im Namen neuer Spezialdisziplinen seine Herrschaftsgebiete ab. Das hat, wenn ich das so sagen darf, etwas sehr Männliches, zumal wenn es um den weiblichen Körper geht.
    Während meiner Arbeit fiel mir irgendwann an meiner Leseliste etwas auf. Viele der Bücher spielten auf Inseln: Robinson Crusoe interessierte mich wegen seines alles entscheidenden Fußabdrucks, Gullivers Reisen wegen der Maßstabsveränderungen, Taipi wegen der Tätowierungen und der Kannibalen, Die Insel des Dr. Moreau wegen der Vivisektion und der menschlich-tierischen Mischwesen. Woran lag das? Die Bevölkerung einer Insel ist isoliert. Die Menschen dort sind fast so etwas wie eine eigene kleine Menschheit und bieten sich anders als die Mehrheitsbevölkerung in der Heimat in gewisser Weise als anthropologische Studienobjekte an. Inselgesellschaften lassen sich eine Zeit lang wie in einem Experiment beobachten und kontrollieren. Allerdings nicht für immer. Der Held entkommt irgendwann und berichtet von seinen Abenteuern (oder auch nicht, wie im Falle von Dr. Moreaus Besucher, der Amnesie vorschützt, weil das Gesehene so unglaublich war). John Donne erinnerte uns dann auch in seinen berühmten Meditationen daran: „Kein Mensch ist eine Insel, ganz für sich allein; jeder ist Teil eines Erdteils, Teil eines Ganzen.“
    Auf fiktiven Inseln können wir nicht nur die Natur des Menschen an sich untersuchen, sondern auch die Identität eines Einzelnen. Der Körper und seine Teile sind mehr oder weniger gründlich erkundet worden, und doch sind wir immer noch auf der Suche nach diesem ganz besonderen
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