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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Geschichte psychologischer und physischer Zurichtungen nur ein weiteres Kapitel hinzu. Die Vorstellung des Körpers als Leinwand ist nicht neu. Nur gab es noch nie so viele Maler.
    Machen wir uns einmal klar, wie es um die Medizin steht, also die Wissenschaft, die unsere körperliche Gesundheit erhalten oder wiederherstellen soll. Die meisten Naturwissenschaften haben Respekt vor der Geschichte. Viele Forscher verweisen vielleicht nur selten auf die Vergangenheit ihrer Disziplin oder kennen selbst wichtige Persönlichkeiten oder Daten nicht, aber sie sind sich bewusst, dass heutige Entdeckungen ohne die früheren Leistungen nicht möglich wären. Wir stehen auf den Schultern von Riesen. Die Geschichte der Humanbiologie und -medizin verspotten wir dagegen gern. Wir amüsieren uns darüber, dass man früher einmal versuchte, von der Schädelform auf die Persönlichkeit zu schließen. Wir lachen über absurde und schmerzvolle Behandlungsmethoden, etwa die Vorstellung, dass man Keuchhusten mit Feldmauskuchen heilen könnte. Wir lachen, und zwar aus Angst. Wir haben Angst um den verletzlichen, letztlich unverfügbaren menschlichen Körper – unseren menschlichen Körper.
    Inzwischen geht die Wissenschaft neue Wege – in die Tiefe. Wir gewöhnen uns langsam daran, dass wir über unsere Körper am meisten lernen, wenn wir ganz nah heranzoomen und Zellen, Gene, DNA und Proteine erkunden, die uns zu dem machen, was wir sind. Der Schlüssel zu den Funktionen und den Fehlfunktionen des Körpers – den Krankheiten –, so heißt es, liege in den Codes und Sequenzen, seinen chemischen Reaktionen und elektrischen Signalen.
    Diese hoch spezialisierte Forschung ist spannend – ihre Perspektive jedoch auch ein wenig einseitig. Sie beschreibt einen Menschen als Effekt der Buchstaben- oder Zahlencodes, die die Forschung ans Licht gebracht hat. Sicher ist eine solche Beschreibung nützlich – aber sie ist nicht das, was mich interessiert. Als Gattung haben wir in den letzten zehntausend Jahren ganz gut ohne sie gelebt. Wir sehen uns selbst anders. Natürlich ist es wichtig zu wissen, dass der Mensch einen Chromosomensatz besitzt, den man Genom nennt und der über 20

000 Gene enthält, von denen jedes als DNA-Sequenz beschreibbar ist, und dass jede Körperzelle jedes Gen enthält. Aber dieses Wissen kann älteres Wissen nicht ersetzen: dass der Körper ein Herz besitzt, zwei Augen, 206 Knochen und einen Nabel. Es kommt zu diesem Wissen hinzu. Mit seinen vielen spezialisierten Einzelheiten geht es an den wichtigen Tatsachen des Lebens vorbei. Wir erfahren dadurch nicht, was uns wirklich ausmacht.
    „Erkenne dich selbst“, lautete die berühmte Inschrift auf dem Tempel des Orakels von Delphi im antiken Griechenland. Doch trotz all unserer wissenschaftlichen Leistungen wissen wir über uns selbst, vor allem über unser körperliches Selbst, immer weniger. Vielleicht ist die Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sogar zum Ersatz für körperliche Erfahrungen geworden. Eine Studie ergab kürzlich, dass es an amerikanischen Universitäten unter den Studentinnen und Studenten der Biologie und anderer Naturwissenschaften mehr Jungfrauen gibt als in allen anderen Fächern (die wenigsten gibt es bei Kunst- und Ethnologiestudenten).
    Eine derartige Verschiebung ist besonders unter Medizinern zu beobachten. Überall drängen sich die Einzelheiten in den Vordergrund. Das Bewusstsein von der Ganzheit des Körpers ist verloren gegangen, weil die Wissenschaft immer spezialisierter wird und im Körper nur noch Teile, ja isolierte Teile sieht. Die Vermittlung der Grundlagen von Genetik, Molekularbiologie, Pharmakologie, Epidemiologie und Gesundheitswirtschaft hat die Lehre von der Anatomie an den Rand gedrängt, die doch Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Jahren im Zentrum des Medizinstudiums stand. Um 1900 erhielt ein Medizinstudent ungefähr 500 Stunden Anatomieunterricht, in denen der ganze Körper abgehandelt wurde. Heute liegt die Zahl um zwei Drittel niedriger. Mehr und mehr findet dieser Unterricht nicht mehr an Fleisch und Blut statt, sondern anhand von digitalen Bildern.
    Man nimmt den Körper einfach so hin. Der Laie nimmt an, dass die Ärzte alles wissen, was sie über Bau und Funktion des Körpers wissen müssen, und dass wir auch so schon irgendwie klarkommen. Ich bin kein Mediziner und versuche, mich von Krankenhäusern fernzuhalten. Bevor ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, hatte ich noch nie einen aufgeschnittenen
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