Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
Vom Netzwerk:
Anatomie. Und doch geht es in dem Gemälde nicht so offenkundig um Dr. Tulp wie bei Vermeer um das Mädchen. Der Titel ergab sich erst später. Es handelt sich um einGenrebild, das eine Gruppe beruflich erfolgreicher Chirurgen zeigt. Sie sehen aus, als würden sie gerade unterrichtet, dabei wissen sie ungefähr so viel wie Dr. Tulp selbst. Er kann ihnen wenig beibringen. Geht es also um die Gruppe als Ganze? Immerhin haben die Porträtierten das Gemälde gemeinsam bezahlt und sofort nach Fertigstellung in ihrem Gildenhaus aufgehängt.

    Diese Herren mit ihren roten Wangen und den extravaganten Kragen stehen aber ebenfalls nicht im Mittelpunkt. Im Zentrum steht, für uns wie für Rembrandt, der Tote, der auf dem Seziertisch liegt und um den sich die Chirurgen versammelt haben.
    Er ist, oder war, Adriaan Adriaanszoon, genannt ’t Kint. „Das Kind“ war 28 Jahre alt und einschlägig bekannt aufgrund einer Reihe von Tätlichkeiten und Diebstählen, die er in den neun Jahren zuvor begangen hatte. Im Winter 1631/32 versuchte er, in Amsterdam den Mantel eines Mannes zu stehlen. Zu seinem Unglück wehrte der Mann sich, und Adriaanszoon wurde gefasst. Er kam vor Gericht und wurde zum Tod durch den Strang verurteilt. Anschließend war der Körper zu sezieren. Diese ungewöhnliche Strafe für besonders schwere Vergehen sollte Tätern und ihren Familien die letzte Hoffnung nehmen, dass der Körper bei der Wiederkunft Christi auferstehen würde. Drei Tage später, am 31.

Januar 1632, wurde seine Leiche von einem der am Hafen stehenden Galgen abgenommen und zur letzten Bestrafung in das städtische Anatomietheater gebracht.
    Im 17.

Jahrhundert war das Sezieren ein Spektakel. Es konnte nur stattfinden, wenn ein frischer Körper zur Verfügung stand, meist also nach der Exekution eines Kriminellen. Möglich war das nur im Winter, wenn die Kälte den Körper lange genug vor der Verwesung bewahrte, dass der Totengeruch noch erträglich war. Viele Stadtbewohner ließen sich, nicht zuletzt aus Genugtuung über die harsche Bestrafung, diese Anlässe nicht entgehen. Erst sah man sich das Hängen an, und dann folgte man dem Toten an den Seziertisch, um sich zu überzeugen, dass er auch wirklich erledigt war. Anwesend waren also wissbegierige Chirurgen und Ärzte, Vertreter derObrigkeit, die sich überzeugen wollten, dass der Gerechtigkeit genüge getan wurde, und andere Schaulustige. Der Eintritt kostete sechs oder sieben Stuiver (etwa ein Drittel eines Guldens, also mehr als der Eintritt ins Schauspielhaus).
    Auch bei kaltem Wetter stellten diese seltenen Anlässe einen Angriff auf die Sinne dar. Es wurden Räucherstäbchen verbrannt, um den Geruch erträglich zu machen. Es gab Musik, Speisen, Bier und Wein. Das herrliche Frontispiz im berühmtesten Anatomielehrbuch der Renaissance, Andreas Vesalius’ siebenbändigem Werk De humani corporis fabrica (Über den Bau des menschlichen Körpers) von 1543, zeigt inmitten einer aufgewühlten Menge einen Hund und einen Affen. Wenn alles vorbei war und alle Teile des Körpers vom Tisch in den Abfalleimer gewandert waren, beliefen sich die Einnahmen auf 200 Gulden. Davon wurden der Henker bezahlt und ein Festmahl für die Gildenmitglieder veranstaltet. Mit einem Fackelzug ging ein solcher Tag zu Ende.
    Rembrandt zeigt uns Adriaanszoons auf dem Tisch liegenden Körper Füße voran und perspektivisch verkürzt. Auf seine nackte Brust fällt viel Licht. Auf dem Gemälde ist er von Kopf bis Fuß etwa 120 cm lang. Auch wenn man die Perspektive berücksichtigt, die den Kriminellen zu einem stämmigen Zwerg zusammenstaucht, erscheint er im Vergleich zu den schwarz gekleideten Chirurgen massig, groß und muskulös. Das Gesicht liegt teilweise im Schatten, wir können es aber deutlich erkennen. Es scheint sogar, als sei der Kopf etwas angehoben, um uns diese überraschende Intimität zu ermöglichen. Seinen Hals, auf dem die Schlinge des Henkers ihre Spuren hinterlassen haben muss, sehen wir allerdings nicht. Im Unterschied zu den rosigen Wangen der Chirurgen ist Adriaanszoons Haut graugrünlich bleich. Rembrandt mischte seinen Farben etwas Rußschwarz bei, um diesen aschenen Ton zu erzeugen. Joshua Reynolds notierte 1781 in seinem Reisetagebuch über das Bild: „Realistischer kann totes Fleisch nicht dargestellt werden.“
    Und doch ist das Gemälde fiktiv. Bei einer normalen anatomischen Sektion öffnet der Praelector zuerst den Unterleib des Toten,um die wichtigsten Organe und die am
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher