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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Ort, dem Sitz der Seele oder des Selbst. Im Mittelalter wurde das Herz oft nicht mit dem Rest des Körpers begraben, weil man dachte, in ihm sei der Sitz der Seele. In der Renaissance sah man das differenzierter. Nun suchte man die Seele in den Proportionen des Körpers. Der Körper als Mikrokosmos spiegelte den Makrokosmos des geordneten Universums genau wider. Die Idealkörper und Anatomien von Leonardo da Vincis vitruvianischer Figur bis zu Rembrandts Vivisektionsgemälden zeugen von dieser Idee. Mit dem naturwissenschaftlichen Fortschritt lebte auch die Suche nach dem genauen Sitz der Seele wieder auf. Man kaprizierte sich auf den Kopf, denn Physiognomen lasen die Identität eines Menschen an seinem Gesichtsausdruck und Phrenologen an der Schädelform ab. Heute schauen wir auf die von Magnetresonanztomografen produzierten Bilder des Gehirns und glauben, wir kämen dadurch unserem Selbst näher. Unsere Sehnsucht nach einer sichtbaren Verkörperung ist offenbar groß.
    Wir wollen das Selbst sehen, weil die heutige Gesellschaft den Individualismus zelebriert und weil wir spüren, dass das Selbst so vielen Manipulationsversuchen ausgesetzt ist wie nie zuvor. Wir wissen, dass unsere Identität – auf psychologischem, physischem, chemischem oder technologischem Weg – bewusst verändert werden kann, etwa durch Selbsthilfebücher, Schönheitsoperationen, bewusstseinsverändernde Drogen oder im Kontext virtueller Realität. Noch werden wir Zeuge der ersten, zaghaften Schritte. In Zukunft wird es wohl leichter und wahrscheinlich auch normaler, das Äußere und die Gene zu manipulieren. Dadurch wird, was ein Bioethiker einst „das natürliche Selbst“ nannte, aufgebrochen.
    Der menschliche Körper existiert heute in einer spannenden und auch verstörenden Umbruchszeit. Wir führen ihn uns ständig vor Augen und sind mit ihm unzufrieden. Die Biologie macht uns große Versprechungen. Doch wie schön wir auch sind, wie leistungsfähig wir auch werden mögen, wie lang wir auch leben – wir können nicht aus unserer Haut. Womöglich können wir die heutigen Probleme meistern, indem wir lernen, den menschlichen Körper als Ort ständiger Neuerfindung zu betrachten.
    Eine Hürde auf dem Weg zu einem besseren Verständnis unserer Körper sind die vielen griechischen und lateinischen Fachbegriffe, die auch die Ärzte in ihrem Studium pauken mussten. Einige glauben, diese Wörter seien notwendig, um einem internationalen kommunikativen Standard zu genügen, vergleichbar mit einer Messe, die auf Latein gesungen wird. Ich habe da meine Zweifel. Daherversuche ich, in diesem Buch solche Wörter zu vermeiden, auch weil sie mich am Anfang selbst verwirrt haben. Ich werde nicht „anterior“ sagen, wenn ich „vorne“ sagen kann, und statt „Femur“ lieber „Oberschenkelknochen“. Ich will die Teile unseres Körpers nicht in einer Sprache beschreiben, die wir nicht sprechen.
    Und jetzt muss ich mich leider entschuldigen. Die Blase ruft.

Prolog: Die Anatomie
    Um wen geht es eigentlich auf diesem Bild?
    Ich befinde mich im Mauritshuis, einer der beeindruckendsten Sammlungen niederländischer Kunst. Das Gebäude ist ein wundervoller kleiner Palast am See im Zentrum von Den Haag. Eben sah ich Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring. Das Gemälde ist so wahnsinnig schön, dass es mich richtig aufgewühlt hat. Zwei Räume weiter stehe ich nun vor Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp.
    Mit diesem Gemälde schaffte er den Durchbruch. 1631 kam Rembrandt im Alter von 25 Jahren nach Amsterdam und suchte Arbeit als Porträtmaler. Das gelang ihm beinahe sofort, da Nicolaes Tulp, der Praelector Anatomiae der Amsterdamer Chirurgengilde, den jungen Künstler um ein Porträt seiner selbst im Kreise seiner Kollegen bat. Der Auftrag muss Rembrandts Erwartungen übertroffen haben und stellte ihn vor mehrere große Herausforderungen: Er musste nicht nur einen Menschen malen, sondern eine ganze Gruppe, er musste die Individualität jedes Einzelnen treffen und doch die Erwartungen erfüllen, die man im 17.

Jahrhundert an ein Gruppenporträt stellte. Und als er den Auftrag annahm, wird sich Rembrandt auch gefragt haben, ob ihm das Bild eine Gelegenheit bieten würde, die großen Fragen des Daseins zu thematisieren.
    Das Bild ist riesig. Es zeigt die sieben Männer, die Dr. Tulp genau zuhören, beinah in Lebensgröße. Tulp selbst sitzt auf seinem Sessel fast wie auf einem hohen Thron und erklärt ihnen eine bestimmte Einzelheit der menschlichen
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