Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
An einem Tag im Winter

An einem Tag im Winter

Titel: An einem Tag im Winter
Autoren: Judith Lennox
Vom Netzwerk:
das Kind bei Miss Michaud zurückgelassen und bin nach England zurückgekehrt. Ich wollte nur eins: das alles hinter mir lassen und neu anfangen. Ich habe mich in die Arbeit gestürzt. Bald darauf habe ich Alison kennengelernt, und ein Jahr später wurde Rowena geboren. Dann kamen der Krieg und Gildersleve. Man vergisst. Ich habe mich gezwungen, zu vergessen.«
    Â»Aber hast du wirklich vergessen?«, fragte sie.
    Ein trübes Lächeln trat auf seine Lippen. »Es ist natürlich ein Teil von mir, es lässt sich nicht einfach auslöschen.«
    Sein Blick suchte ihren.
    Â»Machst du mir zum Vorwurf, dass ich das Kind aufgegeben habe?«
    Â»Nein, Marcus, ich mache mir zum Vorwurf, dass ich dich geheiratet habe.« Sie saß auf der Bettkante und sah ihn fest an, entschlossen, nicht mehr auszuweichen. »Ich hätte es nicht tun sollen, das erkenne ich jetzt.«
    Â»Ich kann mich ändern.«
    Â»Aber nicht weit genug, Marcus. Jedenfalls nicht für mich. Wir würden uns gegenseitig kaputt machen, das musst du doch einsehen.«
    Er reiste noch am selben Abend ab. Wie er geredet hatte, dachte sie. Als hätte nicht jeder Mensch Fehler, als wäre nicht jeder mit Mängeln behaftet.
    India blieb in Medway. Als der erste Schnee fiel, wurde es noch ruhiger im Motel. Sie half nicht nur im Restaurant, sondern auch in der Küche aus. Abigail lernte sitzen und begann zu krabbeln. India erhielt einen Brief von Sebastian. Er habe sich in die junge Frau verliebt, mit der er sich seit Monaten regelmäßig traf – Jenny –, und sie wollten heiraten.
    In den kältesten Monaten schrumpften die Tage auf wenige Stunden grauen Lichts. Das Wasser im Penobscot River wurde schwer und schlug träge gegen die Ufer. India trug Abigail in einer Bauchtrage mit sich, wenn sie einkaufen ging oder am tief verschneiten Flussufer entlangstapfte, um Kitty Michaud zu besuchen. Die Zweige der Tannen waren von weißen Schollen bedeckt, die ab und zu herabrutschten und in Schneewolken aufstäubten. Schneeflocken wirbelten an ihrem Zimmerfenster vorbei und setzten sich auf das Glas.
    Im neuen Jahr erhielt sie einen Brief von Marcus. Er werde nach England zurückkehren, schrieb er. Seine Arbeit am Midhurst College habe sich nicht so entwickelt, wie er gehofft hatte. Er habe Anweisung gegeben, dass jeden Monat eine bestimmte Summe auf ein Bankkonto in Montpelier, Vermont, für sie überwiesen werde. Wenn sie das Geld nicht selbst brauche, solle sie es für Abigails Ausbildung sparen.
    Der Frühling kam. Der Schnee schmolz, der Fluss schwoll an, und der Wind peitschte sein Wasser zu sichelförmigen Wellen auf. Abigail tappte im Motelzimmer von Möbelstück zu Möbelstück, schob sich seitlich am Sofa entlang, die Hände auf die Sitzfläche gestützt. Eines Tages, als India gerade den Zimmerschlüssel für einen Fernfahrer holte, der aus Kanada gekommen war, sah sie, wie Abigail sich von einem Tisch abstieß. Sechs Schritte ohne fremden Halt! India und der Fernfahrer applaudierten.
    Sie schrieb an Linc. Sie hatte den ganzen Winter an ihn gedacht, sich die Wärme seines Körpers und seines Mundes ins Gedächtnis gerufen, hatte ihn vor sich gesehen, wie er auf dem Treppenabsatz vor seinem kleinen Haus stand, während der Schnee die Berge zudeckte, wie er nachmittags ins Café hinüberging. Hielt er immer noch nach ihr Ausschau? Dachte er noch an sie?
    Er schrieb ihr zurück. Er kenne Medway, er sei schon einmal dort gewesen. Ein nettes kleines Dorf. Es habe ihm gefallen.
    Der Himmel wurde blau, die Luft erwärmte sich. Die Jukebox in der Cafeteria spielte »All I Have to Do is Dream«, und India schaute zum Fenster hinaus und suchte nach einem hochgewachsenen, braunhaarigen Mann mit einem entspannten Lächeln.
    Bei der Arbeit im Restaurant gingen ihr Fragen durch den Kopf. Wie lange würde es dauern, bis sie sich eine Reise nach England leisten konnte, um Sebastian zu besuchen? War es jetzt vielleicht an der Zeit, aus dem Motel auszuziehen und sich ein Haus zur Miete zu suchen? Und wenn ja, würde sie fürs Erste weiter in Medway bleiben oder lieber weiter nach Süden ziehen?
    Während sie einen Tisch abwischte und neu eindeckte, sah sie draußen auf dem Parkplatz einen grünen Pick-up anhalten. Ein Gast bat um mehr Kaffee; India holte die Kanne, sah aber immer wieder hinaus zu dem Pick-up. Sie schenkte den Kaffee ein und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher