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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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riesigen, schwieligen Pranken auf sie stürzen würde – aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen war die Spukgestalt einen Augenblick später im Nebel verschwunden. Statt ihren stampfenden Schritten war plötzlich dumpfer Hufschlag zu vernehmen, und die Formen eines Reiters schälten sich aus den weißlichen Schwaden.
    »Sarah? Bist du das …?«
    »Kamal!«
    Sarahs Erleichterung darüber, die Stimme ihres Geliebten zu vernehmen, war grenzenlos. Mit einem Seufzen ließ sie den Stein fallen und wollte Kamal entgegeneilen. Ihre Knie waren jedoch noch weich und gaben nach, sodass sie gestürzt wäre, hätte Kamal sie nicht aufgefangen. Froh darüber, dass er sie gefunden hatte, fiel sie in seine Arme und schluchzte leise, nicht unähnlich dem Mädchen, das sich einst im Nebel verirrt hatte und von seinem Vater aufgelesen worden war …
    Kamal Ben Nara war über ihre Reaktion nicht wenig überrascht. Er hatte Sarah Kincaid in vielen, auch heiklen Situationen erlebt und mit ihr manche Todesgefahr überstanden. Stets hatte sie dabei jedoch einen kühlen Kopf bewahrt und war ihm niemals auch nur annähernd so furchtsam und verletzlich erschienen wie in diesem Augenblick …
    »Sarah«, sagte er, »es tut mir unendlich leid! Ich wollte dir bei unserem Wettrennen ein wenig Vorsprung geben, aber dann kam plötzlich dieser Nebel auf, und ich habe dich aus den Augen verloren. Wenn ich gewusst hätte, dass du dich so ängstigst …«
    »H-hast du ihn gesehen?«, erkundigte sie sich flüsternd.
    »Ihn gesehen? Wen?«
    »Den Hünen.«
    »Welchen Hünen?«
    »Da war jemand im Nebel. Ein großer Mann, ein Schatten. Er hat nach mir gesucht …«
    »Bist du sicher?«
    Sie nickte, noch immer von Grauen geschüttelt.
    »Nein, Sarah, ich habe niemanden gesehen. Hier draußen sind nur du und ich …«
    »Und dieser Fremde«, beharrte sie und löste sich aus Kamals Armen, um sich wachsam umzusehen – aber von dem hünenhaften Schemen, der ihr noch vor wenigen Augenblicken solche Furcht eingeflößt hatte, war weit und breit nichts mehr zu erkennen.
    War er tatsächlich da gewesen?
    Hatte Sarah ihn wirklich gesehen? Oder war er nur eine Projektion gewesen, eine Phantasmagorie, die ihre irrationale Furcht auf die weiße Nebelwand geworfen hatte? Nun, da der erste Schreck überwunden war und Sarah wieder Atem schöpfte, wusste sie es nicht mehr mit Bestimmtheit zu sagen. Sie fühlte sich an Paris erinnert, an die Gassen des Montmartre, wo sie ebenfalls das Gefühl gehabt hatte, von einer hünenhaften Gestalt verfolgt zu werden, damals vor – so schien es ihr – undenklich langer Zeit, als ihr Vater noch gelebt hatte und die Welt um sie herum in mancher Weise eine andere gewesen war. Was, wenn ihre alte Furcht ihr einen Streich gespielt und ihr etwas vorgegaukelt hatte, das es in Wahrheit gar nicht gab?
    Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte Sarah solch eine Möglichkeit weit von sich gewiesen und behauptet, dass einem wachen Verstande so etwas nicht passieren konnte. Aber die Dinge, die Sarah Kincaid seither gesehen und erlebt hatte, hatten sie gelehrt, dass es mitunter Dinge gab, die sich mit rationalen Mitteln nicht erschöpfend erklären ließen …
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Kamal. Er sah die Verwirrung in ihren Augen und schien ehrlich besorgt zu sein.
    »Ich nehme es an«, entgegnete sie. »Es ist nur … Ich war mir ganz sicher, dass da jemand war …«
    »Im Nebel erscheinen die Dinge oft anders als bei klarem Licht«, gab Kamal zu bedenken. »Ein Fels wird zum Riesen, ein Baum zur Schreckgestalt. Nicht von ungefähr ranken sich unzählige Geistergeschichten um dieses Moor.«
    »Du hast Recht«, sagte Sarah und kam sich plötzlich dumm und töricht vor. »Ich habe mich einschüchtern lassen wie ein kleines Kind.«
    »Vermutlich ist das der Grund«, meinte Kamal.
    »Wovon sprichst du?«
    »Tief in unserem Herzen«, erwiderte er, wobei ein Lächeln um seine Züge spielte, »sind wir alle noch Kinder. Unser Verstand mag reifen und unser Äußeres mag altern, aber tief in unserem Inneren wissen wir, wie jung und verletzlich wir noch immer sind.«
    »Das ist wahr«, entgegnete sie, dankbar für sein Verständnis.
    »Du musst die Vergangenheit hinter dir lassen, Sarah. Ich weiß, dass sie dich noch immer verfolgt, aber du darfst ihr nicht nachgeben. Irgendwann, das verspreche ich dir, wirst du erwachen und all diese Dinge hinter dir gelassen haben.«
    »Meinst du?«
    »Inschallah«, entgegnete Kamal leise.
    Sarah
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