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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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begeben hatte. Als einheimischer Führer war Kamal zu Sarah und ihren Begleitern gestoßen, freilich ohne ihnen zu enthüllen, dass er in Wahrheit Oberhaupt eines Tuareg-Stammes war, dessen Aufgabe darin bestand, jenes sagenumwobene Buch und die darin enthaltenen Geheimnisse zu bewachen. Ereignisse, wie sie dramatischer nicht sein konnten und in deren Verlauf Sarahs enger Freund und Vertrauter Maurice du Gard den Tod gefunden hatte, führten Kamal und sie schließlich in den »Schatten von Thot«, einen rätselhaften Ort inmitten der Libyschen Wüste, wo sie dem Vermächtnis der ägyptischen Gottheit begegneten – und dafür um ein Haar mit dem Leben bezahlten.
    Obwohl es für Kamal, dessen Mutter Britin gewesen war und der lange Zeit in London gelebt hatte, mit persönlichen Risiken verbunden war, nach England zurückzukehren, hatte er es Sarah zuliebe getan – und sie genoss es, seine Wärme und Nähe zu spüren. Sie brauchte sich im Bett nur herumzudrehen, um in seine dunklen Augen und seine milden Züge zu blicken, in denen sie stets Trost und Liebe fand.
    »Hast du wieder geträumt?«, erkundigte sich Kamal besorgt. Das Mondlicht, das durch das hohe Fenster des Schlafzimmers fiel, beleuchtete sein Gesicht.
    Sarah nickte widerstrebend. »Die Geister der Vergangenheit – ich werde sie nicht ganz los.«
    »Das braucht Zeit«, erwiderte er leise. »Bei meinem Volk gibt es ein Sprichwort: Ein Herz kann nur hinter sich lassen, was es hinter sich lassen möchte.«
    »Was meinst du damit?« Fragend schaute sie ihn an. »Glaub mir, ich möchte vergessen, was gewesen ist. Ich bete jeden Tag dafür.«
    »Das glaube ich dir.« Er lächelte und strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Aber Wille und Herz gehen oftmals getrennte Wege.«
    »Nicht in diesem Fall«, versicherte sie und beugte sich zu ihm, um ihn zärtlich auf den Mund zu küssen -und einmal mehr fand sie in seinen Armen das ersehnte Vergessen.

2.
    P ERSÖNLICHES T AGEBUCH S ARAH K INCAID
    Die Tage vergehen wie im Flug.
    Es ist, als wäre ich neu geboren, als wäre ich durch Kamal eine andere Person geworden. Nicht länger gilt mein einziges Interesse der archäologischen Wissenschaft und der Erforschung der Vergangenheit, nicht länger sind meine Gedanken verfinstert von den Schatten dessen, was einst gewesen ist.
    Mein Vater und die dramatischen Geschehnisse in Ägypten werden mir immer gegenwärtig bleiben. Aber mit jedem Tag, der verstreicht und den ich in der Gesellschaft Kamals verbringe, glaube ich zu spüren, dass sie mehr und mehr die Gewalt über mich verlieren. Nur des Nachts sind sie noch lebendig als würde die Dunkelheit sie dazu ermuntern, aus jenen finsteren Winkeln der Seele zu kriechen, in die das helle Sonnenlicht und Kamals hingebungsvolle Liebe sie vertrieben haben.
    Ein Dreivierteljahr ist seit unserer Rückkehr verstrichen. Der schändliche Verrat Mortimer Laydons, der Tod meines treuen Freundes Maurice du Gard sowie jene unbekannte Macht, die mir und den Meinen nach dem Leben trachtete, sind in den Hintergrund getreten zugunsten einer Gegenwart, wie ich sie mir erfüllter und schöner nicht vorstellen kann. Meine innere Unrast und der Drang zur Suche sind in den Armen eines Mannes zum Erliegen gekommen, der mich fasziniert und bezaubert wie keiner vor ihm. Und dabei sind es nicht die äußeren Merkmale Kamals, die ihn von allen anderen Männern unterscheiden, denen ich in meinem Leben begegnet bin, sondern seine Klugheit, seine Weisheit und seine Geduld. Nicht nur aus seinen Worten, sondern auch aus jedem Blick, aus jeder kleinen Geste scheinen Wohlwollen und Verständnis zu sprechen für das, was ich war, was ich bin und was ich jemals sein werde. Es ist, als würden wir einander nicht erst seit wenigen Monaten, sondern schon sehr viel länger kennen.
    Jahre. Zeitalter. Äonen.
    Ich vermag nicht genau zu benennen, was es ist, das uns verbindet, aber ich fühle, dass dieses Band stark ist und mit jedem Tag noch stärker wird …
    Y ORKSHIRE , E NGLAND
16.S EPTEMBER 1884
    »Wer zuerst bei der alten Eiche ist, abgemacht?«
    »Sarah, warte!«, rief Kamal – aber Sarah hatte ihrem Pferd bereits die Sporen gegeben.
    Der rabenschwarze Hengst schoss davon, schlug seine Hufe in den weichen, von klammer Feuchte durchdrungenen Boden, der von Flecken hellgrünen und gelben Grases bedeckt war. In den Niederungen zwischen den Hügeln, die ihre kahlen, felsgekrönten Buckel aus der weiten Marschlandschaft reckten, sammelte sich Nebel.
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