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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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nickte.
    Wenn Gott es will.
    Es war Kamals Antwort auf so viele Dinge, Ausdruck eines tief verwurzelten Glaubens auf der einen und einer Schicksalsergebenheit auf der anderen Seite, mit der sich Sarah nur zögernd anfreunden konnte. Zwar hatte auch sie die Erfahrung gemacht, dass der Mensch in seinen Entscheidungen keineswegs immer frei war und es Mächte gab, die ihn führten und lenkten, jedoch war sie zu sehr von der Erziehung ihres Vaters und vom Denken der modernen Zeit geprägt, als dass sie Kamals Überzeugung ganz hätte teilen können. Ein Teil von ihr klammerte sich noch immer an die Hoffnung, dass der Mensch zumindest teilweise Herr seines Handelns war. Nach wie vor sah sie für sich darin die einzige Aussicht, die Geister der Vergangenheit jemals wieder abzuschütteln.
    »Da draußen ist niemand, Sarah«, sagte Kamal voller Überzeugung. »Es sind nur deine Ängste, die dich verfolgen, aber du musst dich nicht mehr fürchten. Das Buch von Thot wurde vernichtet, Meherets Erben sind nicht mehr. Meine Pflicht ist erloschen, ebenso wie die deine. Für deine Verfehlungen hast du Sühne geleistet, ebenso wie ich – nun wird es Zeit, nach vorn zu blicken.«
    »Hilfst du mir dabei?«, fragte sie, während er ihre kalte Hand ergriff und sie zärtlich liebkoste.
    »Das werde ich«, versicherte er. »Da ist nichts mehr, was dich ängstigen müsste. Es ist vorbei, hörst du? Ein für alle Mal.«
    Sie erwiderte das Lächeln, das er ihr schenkte und an dem sie sich wärmte wie an einem hellen Sonnenstrahl. Dann stiegen sie wieder in die Sättel und ritten in langsamem Trab zurück nach Kincaid Manor. Noch einmal blickte sich Sarah im dichten Nebel um – aber der geheimnisvolle Schemen blieb verschwunden.
    K INCAID M ANOR
A BEND DES 16. S EPTEMBER 1884
    Es war ein üppiges Mahl gewesen. Molly Hackett, die beleibte Köchin aus den Midlands, die auf dem Anwesen bedienstet war, solange Sarah zurückdenken konnte, hatte einmal mehr alle Register ihres Könnens gezogen und ein mehrgängiges Menü aufgetragen, das aus einer kräftigenden Brühe, in Minzsauce gesottenem Hammelfleisch und gebratenen Kartoffeln bestanden hatte.
    Nach dem Essen zogen Sarah und Kamal sich in das Kaminzimmer zurück, in dessen offener Esse ein knisterndes, wärmendes Feuer loderte, das einen flackernden Schein auf die holzgetäfelten Wände warf. Ein breites Sofa aus dunklem Leder stand davor, auf dem Kamal Platz nahm, während sich Sarah am Spirituosenschränkchen zu schaffen machte. Ihr Vater hatte darin manch kostbaren Tropfen aufzubewahren gepflegt, allerdings hatte Sarah seit seinem Tod noch niemals Hand daran gelegt. An diesem Abend jedoch überwand sie ihre Scheu. Mit einer staubigen Flasche Scotch und zwei Gläsern aus glitzerndem Kristall kehrte sie zurück und setzte sich neben Kamal.
    »Diesen Scotch«, erklärte sie, »hat mein Vater für einen besonderen Anlass aufbewahrt. Er wurde nicht müde zu erklären, dass dieser Tropfen fast zweihundert Jahre alt und im selben Jahr abgefüllt wäre, in dem sich das Massaker von Glencoe ereignete. Auf der ganzen Welt gibt es nur noch eine Hand voll Flaschen davon.«
    »Und diesen wertvollen Tropfen willst du heute trinken?«, erkundigte sich Kamal mit hochgezogener Braue.
    »Allerdings.«
    »Aus welchem Grund?«
    »Weil heute ein besonderer Anlass ist«, erklärte Sarah rundheraus. »Es ist der erste Tag vom Rest meines Lebens. Der Tag, an dem ich beschlossen habe, meine Vergangenheit endgültig hinter mir zu lassen und in die Zukunft zu blicken statt immer nur zurück.«
    »Eine gute Entscheidung«, lobte Kamal lächelnd.
    »Nicht wahr? Und ich verdanke sie ganz allein dir. Du hast mir die Kraft dazu gegeben. Du bist da, wenn ich dich brauche – selbst wenn ich im Nebel verloren zu gehen drohe. Ich liebe dich von ganzem Herzen, Kamal.«
    »Und ich liebe dich«, erwiderte er. »Dennoch solltest du den Korken in der Flasche lassen.«
    »Weshalb?«
    »Weil ich nicht mit dir trinken werde«, erklärte er und deutete zur getäfelten Decke. »Allah verbietet es mir, schon vergessen?«
    »Soll das heißen«, fragte sie, während sie Flasche und Gläser auf den Boden stellte, »dass du nicht bereit bist, eine Ausnahme zu machen? Nicht einmal für mich?«
    »Nicht einmal für dich«, beharrte er.
    Sarah lächelte – sie hatte keine andere Antwort erwartet. »In diesem Fall«, erklärte sie, zum Spaß die Beleidigte spielend, »werde ich dir meine Zuneigung wohl auf andere Weise vermitteln
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