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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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    Zögernd, mit einem elenden Ausdruck im Gesicht, trat der Diener vor die Tür und entriegelte sie. Knarrend schwang das schwere Blatt auf, und die wutgeröteten Gesichtszüge eines Mannes erschienen, dessen Alter Sarah auf etwa vierzig Jahre schätzte. Das rote Haar, das unter dem schlanken Zylinderhut hervorstach, war mit Pomade geglättet. Die Blicke des unerwünschten Besuchers stachen umher wie Dolche, und über seinen schmalen, zornbebenden Lippen prangte ein perfekt getrimmtes Oberlippenbärtchen, das wohl Attribut eines Gentlemans sein sollte. Das Gebaren des Fremden war jedoch gegenteiliger Natur …
    »Inspector Lester?«, fragte Sarah spitz und trat forsch auf ihn zu.
    »Allerdings. Und Sie sind …«
    »Lady Kincaid, die Herrin dieses Anwesens«, entgegnete sie barsch. »Sicher können Sie mir erklären, was Ihr seltsamer Auftritt zu nachtschlafender Stunde zu bedeuten hat, Inspector! Sie haben mein Gesinde und mich zu Tode erschreckt.«
    »Das lag nicht in unserer Absicht«, erklärte Lester ohne erkennbares Bedauern. »Als wir allerdings von gewissen Sachverhalten erfuhren, mussten wir sofort handeln.«
    »Tatsächlich?« Sarahs Augen verengten sich forschend. »Und von was für Sachverhalten, bitte sehr, ist hier die Rede?«
    »Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass sich unter Ihrem Dach ein gesuchter Mörder aufhält«, eröffnete der Inspektor rundheraus, hinter dem sich mehrere uniformierte und mit Fackeln bewehrte Constables drängten.
    »Lächerlich«, beschied ihm Sarah, obwohl sie in diesem Augenblick das Gefühl hatte, als würde die heile Welt, die sie während der vergangenen Monate mühsam um sich errichtet hatte, zerspringen wie stumpf gewordenes Glas. Sie hörte das leise Ächzen, das Kamal von sich gab, und sah aus dem Augenwinkel, wie er langsam zurückwich.
    »Sie da!«, zischte Lester, der ihn erst in diesem Moment zu bemerken schien. »Ist Ihr Name Kamal Jenkins?«
    »Und wenn?«, kam es unsicher zurück.
    »Ich nehme das als Bestätigung«, drang es gleichmütig zurück. »Kamal Jenkins – ich verhafte Sie hiermit wegen dringenden Mordverdachts.«
    »Wegen Mordverdachts?«, fragte Sarah erschrocken. »Was genau wird ihm zur Last gelegt?«
    »Er wird beschuldigt, in der Nacht vom 7. zum 8. April 1869 den königlichen Grenadier Samuel Tennant erstochen zu haben. Des Weiteren soll er den königlichen Grenadier Leonard Albright vorsätzlich und schwer am Körper verletzt und seiner Männlichkeit beraubt haben.«
    Sarah sog scharf die Luft ein.
    Bislang waren die beiden Soldaten für sie nur vage Phantome gewesen; sie standen für etwas, das vor langer Zeit geschehen war und das Kamal ihr einst gestanden hatte, in einer einsamen Wüstennacht am Lagerfeuer, als sie einander ihre tiefsten, verborgensten Geheimnisse offenbarten. Zum ersten Mal erfuhr sie nun die Namen der beiden Männer, und es versetzte ihr einen Schock, als sie begriff, dass die Vergangenheit dabei war, ihren Geliebten einzuholen …
    Erschrocken fuhr sie zu Kamal herum. An dem maßlosen Entsetzen in seinem Gesicht konnte sie erkennen, dass auch er nicht mehr damit gerechnet hatte, für jene vor so langer Zeit begangene Tat noch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zu der Furcht in seinen Augen gesellte sich jedoch etwas, womit Sarah nicht gerechnet hatte.
    Anklage.
    Unverhohlener Vorwurf, der niemand anders galt als ihr …
    »Wie konntest du nur?«, hauchte Kamal ihr zu, so leise, dass weder die Polizisten noch der Hausdiener es verstehen konnten.
    »Was meinst du?«, fragte Sarah entsetzt.
    »Niemand wusste es – außer dir. Du hast mich verraten!«
    Sarahs Augen weiteten sich, ihre Stimme versagte beinahe. »D-das ist nicht wahr!«, stammelte sie. »Ich habe niemandem etwas verraten …«
    »Und ich habe es niemand anders gesagt«, entgegnete Kamal ebenso schlicht wie endgültig, während vier der Constables in die Halle eindrangen. Trevor, der ihnen protestierend den Weg versperrte, stießen sie kurzerhand beiseite. Dann hatten sie den sich heftig zur Wehr setzenden Kamal auch schon ergriffen.
    »Lassen Sie ihn los!«, ereiferte sich Sarah und wollte ihrem Geliebten zu Hilfe eilen, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich damit gegen das Gesetz stellte. Die Mündung des kurzläufigen Revolvers, die ihr plötzlich entgegenblickte, belehrte sie jedoch eines Besseren.
    »Keine Bewegung«, mahnte Inspector Lester kalt. »Ich möchte kein Blutvergießen, aber ich werde tun, was immer notwendig ist, um diesen
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