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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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Weiße Schleier, aus denen knorrige Pappeln und Eichen ragten, die ihr Laub bereits abgeworfen hatten und sich dem grauen Himmel als karge Gerippe entgegenstreckten.
    Schon als junges Mädchen hatte Sarah es geliebt, zu Pferd durch diese urwüchsige Landschaft zu jagen -sehr zum Leidwesen ihres Vaters, der dies stets mit großer Sorge um ihre körperliche Gesundheit beobachtet hatte. Aber damals wie heute hatte sie die Gefahr ignoriert und dem Ungestüm nachgegeben, das in ihrer Brust wohnte. Todesmutig lenkte sie ihr Tier auf eine der niederen Steinmauern zu, die das hügelige Gelände durchliefen und ein Grundstück vom anderen trennten, und mit einem weiten Sprung setzte der Rappe darüber hinweg.
    Sarah konnte nicht anders und stieß einen grellen Schrei der Begeisterung aus, als das Pferd leichtfüßig landete und seinen wilden Galopp fortsetzte. Ein Blick über die Schulter zeigte ihr, dass Kamal ein gutes Stück zurücklag – sie würde das Rennen also wohl einmal mehr gewinnen.
    Lachend trieb sie ihr Tier den Hang hinab, dem Baum entgegen, den sie als Ziel vereinbart hatten. Sie genoss es, den Wind in ihrem Gesicht zu spüren und sich das Haar von ihm zerzausen zu lassen, sich dabei frei und unabhängig zu fühlen. Alle Verpflichtungen, alle Beschränkungen, alle Erinnerungen schienen in diesen Augenblicken weit weg zu sein, und bisweilen kam es Sarah vor, als wäre sie niemals fort gewesen; als wäre sie immer noch das Mädchen, das in der rauen Wildnis Yorkshires zu Hause war, das den Wert ordentlich genähter Reithosen ungleich höher schätzte als den eines rüschenversetzten Kleides und das darauf brannte, seinen Vater auf die nächste abenteuerliche Exkursion in die Vergangenheit zu begleiten.
    Die Wirklichkeit sah freilich anders aus, denn all dies lag lange zurück, und in dem Augenblick, als Sarah die alte Eiche erreichte und ihren Rappen zügelte, kehrte Ernüchterung ein. Schnaubend kam der Hengst zum Stehen, heißen Dampf aus seinen Nüstern blasend, und Sarah drehte das Tier herum, um nachzusehen, wo Kamal geblieben war.
    Sie konnte ihn nicht entdecken. Der Nebel, der den alten Baum zunächst nur in zaghaften Schwaden umlagert hatte, war plötzlich dichter geworden, und eine weiße Wand schien Sarah und ihr Reittier auf allen Seiten zu umgeben.
    Plötzlich war es still geworden. Als würde der Nebel nicht nur ihre Sicht, sondern auch ihr Hörvermögen dämpfen. Nichts war zu hören außer dem heiseren Atem des Hengstes. Die Hufschläge von Kamals Pferd waren verstummt, ebenso das leise Pfeifen des Windes.
    »Kamal …?«
    Sarah erschrak über den Klang ihrer Stimme, die sich im Nebel seltsam fremd und unheimlich anhörte. Sie war in Yorkshire aufgewachsen und vertraut mit dem Phänomen plötzlich aufkommenden Nebels, der bei fallenden Temperaturen aus den Moorlöchern kroch. Dennoch war ihr unwohl. Sie hatte den Nebel noch nie gemocht. Der Gedanke, nicht sehen zu können, was sich vielleicht nur wenige Yards von ihr entfernt befand, beunruhigte sie auf eine Weise, gegen die schwer anzukommen war.
    Natürlich rief sie sich selbst zur Räson und sagte sich, dass es keinen Grund gäbe, beunruhigt zu sein, dass alles in Ordnung sei und ihre kindische Furcht jeder Grundlage entbehre – aber sie konnte nicht verhindern, dass sich ihrer ein leiser Schauder bemächtigte, der ihren Rücken hinabkroch und sie frösteln ließ.
    »Kamal! Wo bist du?«, rief sie in die sie umgebenden Schleier, die mit jedem Augenblick noch dichter und undurchdringlicher zu werden schienen. Sarah erinnerte sich, dass sie sich einmal im Moor verirrt hatte, vor langer Zeit …
    Zu ihrem zwölften Geburtstag hatte ihr Vater ihr ein Pferd geschenkt – einen gutmütigen Schecken, auf dem sie sofort ausgeritten war. Den ganzen Nachmittag hatte sie damit zugebracht, ziellos in den Hügeln umherzureiten, ohne Rücksicht auf das arme Tier, das gegen Abend zu lahmen begonnen hatte. Nebel war aufgezogen, und Sarah hatte sich inmitten eines Labyrinths aus weißen Schleiern verloren, aus dem es kein Entrinnen gab.
    Die Dunkelheit brach herein, und mit ihr kamen die unheimlichen Geräusche, die das Moor nächtens zu erzeugen pflegt. Plötzlich war auch der Schecke verschwunden, und Sarah war ganz allein. Am Fuß eines Felsblocks kauernd und jämmerlich frierend, hatte sie ausgeharrt und darauf gehofft, dass jemand nach ihr suchen und sie finden würde – und irgendwann, weit nach Mitternacht, war es soweit. Eine Laterne flammte in der
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