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Am Ufer Des Styx

Am Ufer Des Styx

Titel: Am Ufer Des Styx
Autoren: Michael Peinkofer
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verschwommenen Finsternis auf, und ihr Vater tauchte auf, einem rettenden Engel gleich. Ohne ein Wort des Vorwurfs oder des Tadels lud er das weinende Mädchen auf seine starken Arme und trug es davon, zurück in die wärmende Geborgenheit von Kincaid Manor – nach der sich Sarah auch in diesem Augenblick sehnte.
    »Kamal …?«
    Ihre Stimme war unsicher geworden. Einen Augenblick lang erwog sie, zurückzureiten und nach Kamal zu suchen, aber damit hätte sie den einzigen Orientierungspunkt aufgegeben, der ihr geblieben war. Im Sattel wandte sich Sarah um und blickte an dem alten Baum empor, dessen knorrige, bizarr geformte Äste plötzlich wie die bleichen Gliedmaßen eines Skeletts aussahen.
    Sarah schüttelte den Kopf und lachte bitter auf. Was für eine Närrin sie doch war! Es gab keinen Grund, sich zu ängstigen. Was immer sie fühlen mochte, es waren nur die Reflexionen der Vergangenheit, die Furcht eines zwölfjährigen Mädchens, das sich verlaufen hatte und das zurück zu seinem Vater wollte.
    Energisch zwang sich Sarah dazu, ihre kindischen Ängste aufzugeben, indem sie sich sagte, dass der Baum keinesfalls anders aussehe als vorhin und dass der Nebel nichts weiter sei als Feuchtigkeit, die sich niederschlug. Es gelang ihr beinahe – als sie plötzlich Geräusche vernahm, Schritte jenseits der Nebelwand.
    »Hallo?«, fragte sie zaghaft. »Kamal, bist du das?«
    Auf ihren Ruf hin setzte das Geräusch für einen Moment aus. Dann jedoch kehrte es wieder: raschelnde Schritte im Gras.
    »Kamal …?«
    Mit gehetzten Blicken schaute sich Sarah um. Es war unmöglich festzustellen, aus welcher Richtung das Rascheln drang. Bald kam es von dieser, dann von jener Seite, sodass Sarah das Gefühl hatte, jemand würde sie lauernd umkreisen. Und obwohl sie sich alle Mühe gab, ihre irrationale Furcht zu bekämpfen, fand diese auf verschlungenen Pfaden in ihr Herz zurück.
    Auf dem Rücken des Pferdes sitzend, kam sie sich ausgeliefert und schutzlos vor, also stieg sie aus dem Sattel – kein Damensitz, wie es wohl angemessen gewesen wäre, sondern ein gewöhnlicher Reitsattel, der auf dem unebenen Gelände größere Sicherheit bot und einen schnelleren Ritt ermöglichte. Der Hengst schnaubte und stampfte unruhig mit den Hufen. Sarah tätschelte seinen Hals, während sie in das undurchdringliche, milchige Weiß starrte, das sie umgab. Und plötzlich glaubte sie, darin etwas zu erkennen.
    Eine Gestalt, auf eine unbestimmte Art menschlich und auch wieder nicht. Sie war von hünenhafter Größe und hatte langes Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte – ihre Haltung und ihre Art, sich fortzubewegen, hatten jedoch etwas Unheimliches an sich.
    Sarah spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Der Anblick jener seltsamen Gestalt berührte etwas tief in ihr, Ängste und Erinnerungen, die sie auf dem Grund ihrer Seele vergraben hatte. Eine Aura unverhohlener Bedrohung ging von dem fremden Schemen aus, die auch der Rappe deutlich zu spüren schien. Unruhig schnaubte das Tier, und die schattenhafte Gestalt fuhr herum.
    »Schhh«, sprach Sarah beruhigend auf den Hengst ein und bückte sich, um einen Stein vom Boden aufzulesen, der gerade so groß war, dass er in ihre Hand passte. Kurz entschlossen holte sie aus und warf den Stein von sich. Das klickende Geräusch, das er beim Aufschlag verursachte, ließ den Hünen aufhorchen.
    Sarah hielt den Atem an.
    Einen quälenden Augenblick stand der unheimliche Schatten unbewegt. Dann wandte er sich ab und entfernte sich langsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
    Statt sich ein Aufatmen zu gönnen, bückte sich Sarah abermals und hob einen weiteren Stein auf, der diesmal ungleich größer war und eine scharfe Kante hatte. Ein schussbereiter Revolver aus dem Waffenschrank ihres Vaters wäre Sarah als Waffe lieber gewesen, aber es beruhigte sie schon, überhaupt etwas zu haben, womit sie sich ihrer Haut erwehren konnte. Weder wusste sie, wer der Fremde war, noch, was er hier trieb, aber sie fühlte die Gefahr. Ihre schwitzenden Handflächen schlossen sich um den Stein, bereit, damit auf den Hünen einzuschlagen, falls er sie entdeckte und angriff – und schon einen Herzschlag später schien es soweit zu sein.
    Als könnte er den Nebel mit Blicken durchdringen, wandte sich der Schattenmann in ihre Richtung.
    Sarah musste einen Schrei unterdrücken. Sie rechnete damit, dass der Hüne im nächsten Moment vortreten und sich mit
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