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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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Am
Mittwoch fühlte er sich nicht so gut, und am Donnerstag bekam er Fieber und
hustete. Als es heute nicht besser wurde, holte ich den Arzt. Er sagt, es ist
eine Infektion. Und Sie wissen ja, in dem Alter kann aus der kleinsten
Erkältung etwas Ernstes werden …»
    Er blieb in der pompös ausgestatteten Halle stehen. «Macht
es Ihnen was aus, hier unten zu warten, Mrs. Small?»
    «Aber nein, Mr. Goralsky. Ganz und gar nicht.»
    «Hier hinauf, bitte.» Er führte den Rabbi über die breite Marmortreppe
mit dem dicken roten Teppich.
    «Wann hat er nach mir verlangt?», wollte der Rabbi wissen.
    «Eh … er hat eigentlich nicht nach Ihnen verlangt. Es war meine
Idee», murmelte Goralsky verlegen. «Wissen Sie, es ist, weil … Er will seine
Medizin nicht schlucken.»
    Der Rabbi blieb stehen und starrte ihn ungläubig an.
    Auch Goralsky war stehen geblieben. «Sie verstehen mich nicht
… Der Arzt hat gesagt, er muss alle vier Stunden seine Medizin einnehmen, auch
während der Nacht. Wir sollen ihn sogar aufwecken. Aber er will sie nicht
nehmen, die Medizin …»
    «Und jetzt soll ich sie ihm einlöffeln?»
    Goralsky bemühte sich, dem Rabbi die Sache klar zu machen.
«Nein, das kann ich auch, aber … Er will nicht, weil Jom Kippur ist. Er
will das Fasten nicht unterbrechen.»
    «Weil Jom … Aber das ist doch Unsinn! Die Vorschrift
gilt nicht für Kranke.»
    «Ich weiß. Aber er hat einen harten Kopf. Darum dachte ich,
Sie könnten ihn noch am ehesten überzeugen. Wenn Sie mit ihm reden, meine ich,
wird er Sie vielleicht ernst nehmen.»
    Der Rabbi schüttelte den Kopf; sie gingen weiter. Im ersten
Stock stieß Goralsky eine Tür auf.
    «Hier, Rabbi …»
    Als sie eintraten, erhob sich die Haushälterin, und
Goralsky bedeutete ihr, draußen zu warten. Das Zimmer war ganz anders
eingerichtet als die Räume, die der Rabbi gesehen hatte. Mitten im Raum stand
ein breites, altmodisches Messingbett, in dem der Alte auf hochgetürmten Kissen
lag. Ein wuchtiges, zerkratztes Eichenpult, über und über mit Papieren bedeckt,
stand an der Wand, davor ein Mahagoni-Drehstuhl mit riesigem Lederpolster.
Außerdem gab es noch zwei mit grünem Plüsch bezogene Stühle, von denen der Rabbi
vermutete, dass sie einmal zur Esszimmereinrichtung der Goralskys gehört
hatten.
    «Der Rabbi kommt dich besuchen, Papa», sagte Goralsky.
    «Ich danke ihm», antwortete der Greis. Er war klein; das wachsbleiche
Gesicht verschwand zur Hälfte unter einem struppigen Bart. Die dunklen,
eingesunkenen Augen glänzten fiebrig. Eine knochige Hand zupfte nervös an der
Bettdecke.
    «Wie geht es Ihnen, Mr. Goralsky?», fragte der Rabbi.
    «Dem Nasser sollt’s gehn wie mir», gab er zurück. Das
Lächeln wirkte gezwungen.
    Auch der Rabbi lächelte. «Warum wollen Sie Ihre Medizin nicht
einnehmen?»
    Der Greis schüttelte langsam den Kopf. «Am Jom Kippur faste
ich, Rabbi.»
    «Aber das Fastgebot gilt nicht für Medikamente. Es ist eine
Ausnahme, ein besonderes Gesetz.»
    «Ich versteh nichts von Sondergesetzen und Ausnahmen. Was
ich weiß, hab ich von meinem Vater selig gelernt. Er war kein Gelehrter, aber
in seinem Städtchen drüben in dem alten Land gab es keinen, der so beten konnte
wie er. Er glaubte an Gott wie an einen Vater. Er stellte keine Fragen, und er machte
keine Ausnahmen. Einmal, ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, stand er zu
Hause in der Stube beim Morgengebet. Da sind besoffene Bauern ins Haus
gekommen. Sie wollten Streit. Sie schrien meinen Vater an, er solle ihnen Schnaps
geben. Meine Mutter und ich, wir hatten Angst; aber mein Vater schaute sie
nicht einmal an und ließ kein einziges Wort von seinem Gebet aus. Einer von den
Kerlen wollte auf ihn losgehen, und meine Mutter fing an zu schrein, aber Vater
betete unbeirrt weiter, bis es den Strolchen zu dumm wurde. Sie zerrten ihren
Kameraden mit und gingen davon.»
    Der Sohn hatte die Geschichte offenbar schon oft gehört, denn
er schnitt ungeduldige Grimassen, doch der Alte achtete nicht auf ihn und
erzählte weiter. «Mein Vater hat sich abgerackert, aber für Essen und Kleider
reichte es immer. Und bei mir war’s genauso. Er hat mir eine gute Frau gegeben,
und sie hat gelebt, bis ihre Jahre voll waren; und gute Söhne hat sie mir
gegeben, und im hohen Alter Reichtum obendrein.»
    «Halten Sie es für so was wie eine Unfallversicherung, wenn
man betet, den Sabbat heiligt und am Jom Kippur fastet?», fragte der
Rabbi. «Gott hat Ihnen auch einen Verstand gegeben, Mr. Goralsky, und
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