Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
Vom Netzwerk:
ein
Leben, für das Sie ihm verantwortlich sind.»
    Der Alte zuckte die Achseln.
    «Es steht ausdrücklich geschrieben, dass Kranke nicht
fasten dürfen», sagte der Rabbi eindringlich. «Es ist eine Grundregel unserer
Religion.»
    «Hören Sie, Rabbi: Ich bin ein alter Mann; seit mindestens fünfundsiebzig
Jahren faste ich am Jom Kippur … Glauben Sie, dass ich jetzt plötzlich
beginnen werde zu essen?»
    «Medikamente sind kein Essen», widersprach der Rabbi und
fuhr ernst fort: «Sind Sie sich bewusst, Mr. Goralsky, dass es als Selbstmord
ausgelegt werden könnte, falls Sie, Gott behüte, sterben sollten, weil Sie Ihre
Medizin verweigern?»
    Der Alte lachte nur.
    David Small fühlte, dass es dem Greis ein boshaftes
Vergnügen bereitete, mit einem jungen Rabbi zu argumentieren; er musste
lächeln, machte aber doch noch einen letzten Versuch. Er gab sich Mühe, finster
und unheilvoll zu klingen: «Bedenken Sie, Mr. Goralsky – ein Selbstmörder
erhält kein rituelles Begräbnis. Man würde an Ihrem Grab keine Rede halten und
keinen Kaddisch sagen. Genau genommen müsste man Sie sogar abseits
beerdigen, am Rand des Friedhofs. Sie dürften nicht neben Ihrer Frau liegen,
und es wäre eine Schande für Ihre Kinder und Enkel …»
    Der Alte hob eine magere, blau geäderte Hand hoch. «Keine
Sorge, Rabbi, ich werd schon nicht ausgerechnet heute Nacht sterben … Benjamin,
ihr müsst jetzt gehen, sonst kommt ihr zu spät zu Kol Nidre. »Er
schloss die Augen zum Zeichen, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.
    «Es tut mir Leid», sagte der Rabbi, während sie die Treppe hinunterstiegen,
«ich konnte nicht sehr viel ausrichten. Aber ich hätte geglaubt, dass er auf
Sie hört.»
    «Seit wann hören Eltern auf ihre Kinder, Rabbi?», fragte Goralsky
verbittert. «Für ihn bin ich immer noch ein kleiner Junge. Er ist stolz, wenn
man mich lobt. Letztes Jahr erschien im Time Magazine ein Artikel über
mich. Er hat die Seite ausgeschnitten und trägt sie in der Brieftasche herum
und zeigt sie allen Leuten … Im Geschäft hört er zum Glück noch auf mich, aber
wenn es um seine Gesundheit geht, da redet man wie gegen eine Wand.»
    «War er sonst immer gesund?»
    «Er war noch nie im Leben krank. Er verachtet die Ärzte. Das
Unglück ist, dass er sich für unverwüstlich hält; und wenn dann so was
passiert, tut er nichts dagegen.»
    «Er muss schon recht alt sein.»
    «Vierundachtzig», sagte Goralsky stolz.
    «Dann hat er vielleicht Recht», meinte der Rabbi. «Wenn er
in dem Alter gesund ist und nie zum Arzt geht, weiß er wahrscheinlich
instinktiv, was gut für ihn ist.»
    «Kann sein. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Mühe, Rabbi.
Ich werde Sie jetzt mit Ihrer Frau zum Tempel fahren.»
    «Kommen Sie nicht zum Gottesdienst?»
    «Nein. Ich glaube, es ist vernünftiger, wenn ich zu Hause bleibe.»
    5
    Ein kleiner Lieferwagen mit der Aufschrift Jackson’s Spirituosen hielt
vor dem Haus der Levensons, die gegenüber den Hirshs wohnten. Der Fahrer stieg
mit einem Paket unter dem Arm aus, klingelte an der Haustür und wartete. Als
niemand öffnete, läutete er nochmals, während er nervös auf den Aluminiumdeckel
seines Quittungsblocks trommelte. Da bemerkte er Isaac Hirsh, der aus dem Haus
trat und auf seinen Wagen zuschritt.
    Eilig ging er zu ihm hinüber. «Wohnen Sie in diesem Haus,
Mister?»
    «Ja.»
    «Kennen Sie zufällig …» Er las den Namen auf dem Paket: «einen
Charles Levenson?»
    «Ja. Er wohnt da drüben.»
    Dem Fahrer riss die Geduld. «Das weiß ich auch, Mister … Schauen
Sie, das ist meine letzte Lieferung heute Abend, und es ist schon spät. Morgen
habe ich nur Lieferungen am anderen Ende der Stadt. Es ist niemand zu Hause, und
ich will das Paket nicht draußen lassen, wo jeder ran kann – Sie wissen schon,
was ich meine … Können Sie’s nicht Mr. Levenson geben, wenn Sie ihn morgen
sehen?»
    «Doch, natürlich.»
    «Vielen Dank … Unterschreiben Sie hier, bitte.»
    Hirsh zog an dem Maskottchen, das am Rückspiegel baumelte,
sodass es an der Gummischnur auf und nieder hüpfte. «Hat’s da drin nicht
geschwappt, Herr Einstein?» Die Puppe mit dem struppigen Haarschopf schien zu
nicken. «Das müssen wir mal näher untersuchen», murmelte er und ließ den Worten
die Tat folgen. Vorsichtig öffnete er das Paket und zog eine Flasche hervor.
«Echter Wodka!» Er stieß einen leisen Pfiff aus. «Und die beste Marke …» Er las
das beigeheftete Kärtchen im Schein der Armaturenbeleuchtung: Für
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher