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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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1
    … Am zehnten Tag des siebenten Monats ist der
Versöhnungstag – heilige Berufung sei er euch, und ihr sollt fasten … und keinerlei
Arbeit sollt ihr verrichten an diesem Tag: eine ewige Satzung für eure
Geschlechter in allen euren Wohnsitzen. Eine Sabbatfeier sei er euch, und ihr
sollt fasten. Am neunten Tag des Monats sollt ihr beginnen und von Abend bis
Abend eure Feier begehen.
     
    Dieses Jahr fiel Jom Kippur , der Versöhnungstag, auf
einen Sabbat, da der neunte Tag des hebräischen Kalendermonats ein Freitag und
der zehnte ein Samstag war. Das machte den Tag zwar nicht heiliger – das war
gar nicht möglich –, aber die Juden brauchten ihre normale Arbeitswoche nicht
zu unterbrechen. Am Freitagnachmittag bereitete sich die jüdische Gemeinde von
Barnard’s Crossing auf diesen heiligsten Tag im Jahr wie die Juden auf der
ganzen Welt vor. Die Frauen richteten das Abendessen, das der Tradition gemäß
besonders reichlich war, um die nötige Kraft für den anschließenden
vierundzwanzigstündigen Fasttag zu spenden. Die Männer waren früh von der
Arbeit nach Hause gekommen, damit sie noch in Muße baden, die Feiertagskleider
anziehen, Abendbrot essen und vor Sonnenuntergang zur Synagoge gehen konnten,
wenn der Kol Nidre -Gesang den hohen Tag einleitete.
    David Small, der junge Rabbi der Gemeinde, stand fertig angezogen
vor seiner Frau Miriam. Sie musterte ihn mit kritischem Blick. Er war
mittelgroß und trotz seiner guten Gesundheit blass und mager; dunkle, tief liegende
Augen blickten nachdenklich hinter den Brillengläsern. Er hielt den Kopf leicht
vorgeneigt und ließ die Schultern hängen wie ein Mann, der ständig über Büchern
sitzt.
    Seine Frau war zierlich und lebhaft und trug einen üppigen
blonden Haarschopf, der sie zu erdrücken schien. Sie hatte große blaue Augen
und ein offenes Gesicht, das ohne das entschlossene kleine Kinn naiv gewirkt
hätte. Sie hatte etwas Kindliches trotz des vorstehenden Bauches, der den letzten
Monat ihrer Schwangerschaft verriet.
    «Dein Anzug, David … die Jacke sitzt schief. Steh grad und
zieh die Schultern hoch!»
    Er riss sich zusammen.
    «Der oberste Knopf stimmt nicht. Falsch angenäht. Er
verzieht die Jacke.»
    «Er war abgerissen, da hab ich ihn wieder angenäht … Du
warst gerade aus.»
    «Komm, ich näh ihn dir richtig an.» Sie untersuchte den Knopf.
«Warum hast du für einen grauen Anzug blauen Faden genommen?»
    «Er ist eigentlich gar nicht blau, sondern weiß. Ich hab
ihn mit dem Füller gefärbt. Und überhaupt, beim Gottesdienst trage ich ja den
Talar drüber.»
    «Und auf dem Weg zum Tempel? Und nachher, wenn du mit den
Leuten sprichst? Deine Schuhe sind auch ganz schmutzig.»
    Er begann den Schuh am Hosenbein abzureiben.
    «David!»
    «Sie werden ja doch wieder staubig, wenn wir zur Synagoge
gehen», rechtfertigte er sich.
    «Nimm wenigstens die Schuhbürste.»
    Aufseufzend ging er hinaus. Sie hörte, wie er mit der
Bürste energisch über die Schuhe fuhr. Als er wieder hereinkam, half sie ihm in
die Jacke, rückte sie zurecht wie ein Schneider und machte die Knöpfe zu. Dann
strich sie über den Kragen und erklärte: «So, jetzt sieht’s besser aus.»
    «In Ordnung? Kleiderappell beendet?»
    «Du siehst gut aus, David.»
    «Also weiter im Text.» Er entnahm seiner Brieftasche zwei Dollarnoten,
gab ihr eine und behielt die andere für sich. Mechanisch wollte er die
Brieftasche wieder einstecken, überlegte einen Moment und legte sie in die
Schreibtischschublade. Am Sabbat trug er kein Geld bei sich.
    Mit einem Gebetbuch in der Hand kam er zurück, blätterte
und gab ihr das offene Buch: «Da ist das Gebet.»
    Sie las den hebräischen Abschnitt, der erläuterte, dass
dieses Geld für wohltätige Zwecke bestimmt sei – eine Art Buße für begangene
Sünden. Dann faltete sie den Geldschein und steckte ihn in den Schlitz der
blauen Sparbüchse auf dem Küchenschrank, deren Inhalt von Zeit zu Zeit
wohltätigen Zwecken zugeführt wurde.
    «Ist ein Dollar genug, David?»
    «Es ist nur symbolisch.» Auch er stopfte seine Dollarnote hinein.
«Mein Großvater schenkte immer einen lebendigen Hahn – der Mann opferte einen
Hahn und die Frau ein Huhn. In deinem Zustand müßtest du ein Huhn und ein Ei nehmen.»
    «Du machst Witze!»
    «Nein, ganz im Ernst.»
    «Und was tut man nachher mit dem Ei?»
    «Wahrscheinlich isst man’s.»
    «Klingt irgendwie kannibalisch.»
     
    Sie setzten sich zu Tisch, und er sprach den Segen. Da
klingelte das Telefon.
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