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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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die Theokratie
satt hatten. Sie wollten sich nicht mehr vorschreiben lassen, was sie tun und
was sie nicht tun durften. Während einer langen Zeit gab es hier weder Kirche
noch Pfarrer. Es war ein derber Menschenschlag, aber die Leute waren tolerant,
und ich habe das Gefühl, dass diese beiden Eigenschaften bis heute erhalten
geblieben sind … Meine Leute waren alle irische Katholiken, und sie leben hier
seit der Kolonialzeit, ohne dass jemand was dagegen gehabt hätte. Wir sind
tolerant, aber wir haben aus jener Zeit noch ein einziges Vorurteil – es
richtet sich gegen Fremde. Fremde sind Leute, die nicht aus Barnard’s Crossing
stammen. Und die beiden Jungen waren aus Salem … Ich bin ganz sicher, dass Ed
Loomis nichts gegen die Jungen hatte. Nichts Persönliches. Wohlgemerkt, ich
heiße es nicht gut, dass unsere Polizei mit fremden Jungen härter umspringt als
mit den einheimischen, aber ich kann es verstehen, weil ich die Hintergründe
kenne.»
    «Sie entschuldigen also diese Haltung?»
    «Ich entschuldige sie nicht, aber ich verstehe sie.»
    «Ich denke, damit ist die Sache noch nicht abgetan. Mr. Braddock,
der Vorsitzende des Stadtparlaments, gehört zu unserer Kirche. Ich habe die
Absicht, ihn von dem Vorfall zu unterrichten.»
    Lanigan spitzte die Lippen, sagte aber nichts. Dann blickte
er auf die Wanduhr und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, bis er über den
anschließenden Korridor den Schreibtisch des Dienst tuenden Sergeant sehen
konnte. «Sag mal dem Streifenwagen Bescheid, Joe», rief er ihm zu. «Sie sollen zur
Synagoge fahren und den Verkehr regeln. Ich hab mit dem Rabbi gesprochen; er
sagt, die Ersten kommen so gegen halb sieben, aber zwischen Viertel vor und
Viertel nach wird’s Gedränge geben … Nachher sollen sie die Streife wieder
aufnehmen.»
    Dann wandte er sich mit einem Lächeln wieder an seinen Besucher:
«Gehen Sie ruhig zu Alf Braddock und beschweren Sie sich bei ihm über Ed Loomis
– er kennt ihn recht gut. Die beiden sind im gleichen Ruderclub.»
    3
    Colonial Village war die erste Stadtrandsiedlung von Barnard’s
Crossing. Die üblichen Witze, die man über Wohnkolonien zu machen pflegt,
trafen auf Colonial Village nicht zu; es bestand hier nicht die Gefahr, dass
der Ehemann am Abend ins falsche Haus trat. Die Häuser hatten zwar alle denselben
Grundriss, doch gab es drei unterschiedliche Fassadentypen, und keine zwei
benachbarten Häuser waren gleich. Die Parzellen waren nicht allzu groß, aber
sie gestatteten doch ein Privatleben, ohne enge nachbarliche Beziehungen zu
erschweren.
    Die älteren Bewohner der Stadt betrachteten Colonial
Village etwas von oben herab. Sie selbst wohnten in hässlichen, aber
soliden und geräumigen viktorianischen Häusern und bezeichneten die Siedlung
als ‹Keksdosenkolonie›; sie spöttelten auch gern über die ‹Schwimmbecken mit
Dach› – eine boshafte Anspielung auf die Tatsache, dass es anf angs nach Regenfällen gelegentlich überschwemmte Keller
gegeben hatte. Außerdem hielt sich hartnäckig die Vorstellung, dass hier
überwiegend Juden lebten.
    Tatsächlich wohnten fast ebenso viele Nichtjuden im
Village, am oberen Teil der Bradford Lane zum Beispiel, wo Isaac und Patricia
Hirsh wohnten, gab es zwar sehr viele jüdische Familien, aber am anderen Ende
lebten die Venutis, die O’Hearnes und der Pole Stan Padefsky.
    Immerhin herrschte am Vorabend des Versöhnungstages in
vielen Häusern von Colonial Village geschäftiges Treiben; überall machte man
sich für den Tempel bereit. Nur bei den Hirshs ging es verhältnismäßig ruhig
zu. Patricia Hirsh, eine große aparte Frau in den Dreißigern mit rotem Haar und
hellen blauen Augen im sommersprossigen Gesicht, hatte bereits gegessen und das
Geschirr abgeräumt. Sie aß oft allein, weil sie nie wusste, wann ihr Mann aus
dem Labor nach Hause kam. Sonst machte es ihr nichts aus, aber heute hatte sie
Liz Marcus von gegenüber versprochen, die Kinder zu hüten, damit sie zum Kol
Nidre- Gottesdienst gehen konnte. Pat ärgerte sich über die Verspätung ihres
Mannes. Sie hatte ihn ausdrücklich gebeten, früh nach Hause zu kommen. Sie
hatte für ihn in der kleinen Essnische, die durch eine Bücherwand vom
Wohnzimmer getrennt war, den Tisch gedeckt. Sie sah gerade auf die Uhr und
überlegte, ob sie im Labor anrufen sollte, als sie ihn die Tür aufschließen
hörte.
    Im Gegensatz zu seiner attraktiven jungen Frau war Isaac Hirsh
klein und dick. Ein Kranz stahlgrauer Haare umrahmte die
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