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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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Glatze des
Fünfzigjährigen. Unter der rot geäderten Knollennase saß ein borstiger Schnurrbart.
    Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss. «Ich hab dir doch
gesagt, dass ich Liz Marcus versprochen habe, auf die Kinder aufzupassen. Und
dass ich zeitig drüben sein will.»
    «Es reicht noch längst, Baby. Der Gottesdienst beginnt frühestens
um sieben, kurz vor Sonnenuntergang.»
    «Woher weißt du das?», fragte sie. «Du gehst doch seit
Jahren nicht mehr in die Synagoge.»
    «So was vergisst man nicht, Baby.»
    «Wenn du’s nicht vergessen kannst, warum gehst du dann nicht
hin?»
    Er zuckte die Achseln und setzte sich zu Tisch.
    «Es ist sicher wie bei uns mit Weihnachten», meinte sie nachdenklich.
«Ich geh nie in die Kirche, zu Hause haben wir uns nicht viel draus gemacht – aber
Weihnachten, das ist was anderes … Als Ma und Pa noch lebten, bin ich zu
Weihnachten immer heim nach South Bend gefahren.» Sie brachte ihm das Essen.
    «Ist doch bei allen dasselbe, oder nicht?»
    Er überlegte. «Jaaa … ja, wahrscheinlich ist es aber für
die meisten Leute im Grunde doch nur eine Art Aberglaube. Und ich bin nun mal
nicht abergläubisch.»
    Sie setzte sich ihm gegenüber und sah ihm beim Essen zu.
    «Manche Juden sind fürchterlich stolz darauf, Juden zu sein»,
fuhr er fort, «obwohl sie ja schließlich nichts dafür können. Und andere wieder
sind unglücklich, dass sie als Juden geboren wurden. Im Grunde ist es dasselbe
mit umgekehrten Vorzeichen.» Er fuchtelte beim Sprechen mit dem Löffel herum.
«Sie setzen alles daran, um davon loszukommen … Arme Teufel.»
    Sie nahm ihm den Teller weg und brachte einen neuen.
    «Wenn sie aus ihrer Geburtsstadt fortziehen, ändern sie den
Namen», sagte er. «Wenn sie bleiben, ist es nicht ganz so einfach, aber auch
dann versuchen sie es zu vertuschen. Ich bin Jude, aber ich bin weder stolz
darauf, noch schäme ich mich deswegen; ich verheimliche es nicht, aber ich
trompete es auch nicht in die Welt hinaus. Ich bin, was ich bin, weil ich so
geboren wurde. Es ist lediglich eine Kategorie; und man kann nach allen
möglichen Kriterien Kategorien einteilen.»
    «Das verstehe ich nicht.»
    «Schau, du kommst aus South Bend. Bist du stolz darauf? Schämst
du dich darüber? Du bist eine Frau …»
    «Das allerdings hab ich schon oft bedauert!»
    Er nickte. «Gut; vielleicht habe ich auch schon mal
bedauert, dass ich Jude bin. Es ist nur menschlich …» Er wurde nachdenklich. «Ich
glaube sogar, dass ich Glück hatte. Als Wissenschaftler kommt es nicht so
darauf an. In manchen Berufen schlagen viele Türen zu, wenn man Jude ist;
vielleicht hätte ich es dann verheimlicht, oder ich wäre übergetreten … Aber
für einen Mathematiker ist es kein sonderlicher Nachteil – im Gegenteil, manche
Leute reden sich sogar ein, dass wir eine besondere Begabung dafür haben. Wenn man
sich irgendwo bewirbt, hat man den Vorteil eines Italieners, der ein Engagement
bei einem Opernensemble sucht.»
    «Mein Gott, bist du heute aber philosophisch!»
    «Möglich. Ich bin völlig erschossen. Davon kann einer schon
philosophisch werden.»
    «Hat dir Sykes wieder einmal zugesetzt?», fragte sie
mitfühlend. «Ach, übrigens, er hat vorhin angerufen.»
    «Sykes? Wann denn?»
    «Vor einer Viertelstunde ungefähr … Du sollst ihn
zurückrufen.»
    «Schön.»
    «Rufst du ihn nicht an?»
    «Nein. Ich geh später nochmals ins Labor zurück. Deswegen
hat er wahrscheinlich angerufen.»
    «Aber du bist doch müde!», protestierte sie. «Und außerdem
ist es doch ein Feiertag für dich …»
    «Ach was! Sykes weiß, dass ich nicht in die Synagoge gehe. Der
Alte hat ihn abgekanzelt, und natürlich muss ich das wieder mal ausfressen.»
    «Etwas nicht in Ordnung, Ike?», fragte sie besorgt.
    Er zuckte die Achseln. «Das Übliche. Man wälzt eine Idee im
Kopf und meint, sie taugt was; man arbeitet Tage und Wochen daran, und dann
stellt sich raus, dass alles für die Katz war.»
    «Aber das kommt doch immer wieder vor, nicht? Das ist doch
normal, dass …»
    «Klar. Und es ist auch weiter nicht tragisch, wenn man Grundlagenforschung
an einer Universität betreibt. Wenn man aber für die Industrie arbeitet wie wir
und dem Auftraggeber hinterher eine Rechnung schicken muss, ist es schon
peinlicher … Dieses Projekt war ein Auftrag von Goraltronics – entsetzlich
schwierige Leute. Aus irgendeinem Grund sind sie jetzt noch ungeduldiger als
sonst, und alles leidet darunter … Na, sollen sich die großen Herren die
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