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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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Ehre verzichtet, wenn er schon dazu aufgefordert wird? Lieber riskiert
er einen Herzanfall.»
    Der Rabbi versprach, sich selbst um die Sache zu kümmern.
Er wollte sich nicht auf sein Gedächtnis verlassen und rief gleich Mortimer
Schwarz an, den Gemeindepräsidenten, der die Ehrenämter von der Kanzel zu
verkünden hatte.
    «Gut, dass Sie anrufen, Rabbi», sagte Schwarz, nachdem er
die Nachricht gehört hatte. «Ich wollte Sie schon anrufen, aber es war schon
spät, und ich wollte Sie nicht mehr stören … Haben Sie von der
Lautsprecheranlage gehört?»
    «Ja, Stanley hat’s mir gemeldet.»
    «Ist sicher nur halb so schlimm. Es summt ein wenig, wenn
man direkt ins Mikrofon spricht, aber man muss einfach die Lautstärke leiser
stellen. Denken Sie bitte daran.»
    «Ich glaube, ich brauche das Mikrofon gar nicht.»
    «Heute vielleicht nicht, aber morgen wird es schön
anstrengend werden. Das ist kein Kinderspiel, ein ganztägiger Gottesdienst auf
leerem Magen.»
    «Wir werden’s schon schaffen. Der Raum hat eine gute Akustik.»
    «Vielleicht find ich noch einen Mechaniker, der heute Abend
nach dem Gottesdienst …»
    «Kommt nicht infrage!», warf der Rabbi rasch ein.
    «Na schön, Sie haben Recht. Es würde uns mehr schaden als
nützen, wenn die Leute merken, dass ausgerechnet heute in der Synagoge
gearbeitet wird … Macht’s Ihnen wirklich nichts aus?» Rabbi Small versicherte,
es mache ihm wirklich nichts aus, und setzte sich wieder an den Tisch. «Mortimer
Schwarz wird rücksichtsvoll», bemerkte er. «Das macht zweifellos die Jom
Kippur -Stimmung.»
    Er hatte die Hälfte seines Brathähnchens gegessen, als das Telefon
erneut klingelte. Miriam wollte abnehmen, aber er winkte ab und nahm den Hörer.
«Rabbi Small …»
    «Oh, Rabbi – gut, dass ich Sie erwische … Hier spricht Mrs.
Drury Linscott. Ich gehöre nicht Ihrem Glauben an, aber mein Mann und ich haben
eine hohe Meinung von Ihren Leuten; der engste Mitarbeiter meines Mannes ist
auch Jude …»
    Sie hielt inne und erwartete offenbar eine Dankesbezeugung
seinerseits.
    «Tatsächlich?», murmelte der Rabbi.
    «Ja. Und jetzt kommt mein Mann und sagt, dass Morton … Das
ist er, wissen Sie. Der Mitarbeiter. Morton Zoll heißt er … Kennen Sie ihn?»
    «Ich … Nein, ich glaube nicht.»
    «Ein feiner Mensch. Und so zuverlässig … Also, mein Mann
behauptet, Morton hätte gesagt, dass er von heute Abend bis morgen Abend nichts
essen und trinken darf, nicht einmal einen Schluck Wasser … Ich kann das
einfach nicht glauben. Da hat mein Mann doch sicher was falsch verstanden?»
    «Nein, nein. Es ist schon so, Mrs. Linscott. Wir fasten von
Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang.»
    «Wirklich? Und während der Zeit darf er nicht arbeiten?»
    «Nein.»
    «Oh …»
    Der Rabbi wartete.
    «Na ja, dann …» Sie hängte ein.
    Der Rabbi starrte verdutzt auf den Hörer. Dann legte er ihn
langsam auf die Gabel.
    «Was war denn diesmal?», fragte Miriam.
    Er berichtete.
    «Von jetzt an werde ich antworten», entschied sie. Im
selben Moment schrillte der Apparat wieder.
    Sie nahm den Hörer. «Mrs. Small … Ach so, Sie sin d’s.»
    Sie deckte die Muschel mit der Hand zu: «Kan tor Zimbler», flüsterte sie.
    «Lass mich ran.»
    Der Kantor schien außer sich. «Rabbi, haben Sie das gehört
wegen der Lautsprecheranlage? Stanley rief mich an, und ich bin gleich zur Synagoge
gelaufen. Ich ruf von hier an. Es ist fürchterlich. Ich hab mal probiert – es
klingt wie ein dreißig Jahre altes Grammophon mit einer stumpfen Nadel. Sobald
man den Kopf bewegt, heult es wie die Feuerwehrsirene … Was sollen wir tun,
Rabbi?»
    Der Rabbi musste lächeln; er fragte sich, ob Zimbler für die
Probe wohl das Kantorengewand angezogen und das weiße Käppchen aufgesetzt
hatte. Das dicke Männchen mit dem kurzen schwarzen Spitzbart sah aus wie der
Koch auf einer Spaghettireklame. Sie teilten miteinander das Umkleidezimmer,
und der Kantor hatte darauf bestanden, dass neben der Tür ein hoher Spiegel
angebracht wurde. Bis vor zwei Jahren hatte er in einer orthodoxen Gemeinde
gesungen; seinem Bewerbungsschreiben um die neue Stelle hatte er ein Konzertplakat
beigelegt, auf dem er sich Jossele Zimbler nannte. Neuerdings trat er
nur noch als Reverend Joseph Zimbler auf. Die Umwelt formt den Menschen.
    «Mit Ihrer Stimme brauchen Sie doch keinen Lautsprecher»,
sagte Rabbi Small.
    «Meinen Sie wirklich?»
    «Bestimmt nicht. Außerdem – Sie sind doch orthodox, oder
nicht?»
    «Na und?»
    «Da
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