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Am Samstag aß der Rabbi nichts

Am Samstag aß der Rabbi nichts

Titel: Am Samstag aß der Rabbi nichts
Autoren: Harry Kemelman
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Architekt, und die Art, wie er sich
kleidete, deutete auf einen Hang zum Künstlerischen hin. Er sah sehr gut aus,
und nach seiner Haltung und seinen Bewegungen zu schließen, wusste er das auch.
Zwischen ihm und dem Rabbi herrschte ein Waffenstillstand, der sich in scherzhaften,
aber oft recht scharfen Sticheleien äußerte.
    «Miriam und ich gehen zu Fuß nach Hause. Ich bin eben etwas
altmodisch …»
    «Sind Sie zu Fuß gekommen? Warum haben Sie mir nichts gesagt?
Ich hätte dafür gesorgt, dass man Sie abholt.»
    «Wir sind im Wagen gekommen. Sogar sehr vornehm … in einem
Lincoln Continental. Ich war schon am Gehen, als mich Ben Goralsky anrief. Er
bat mich, zu seinem Vater zu kommen – es gehe um Leben und Tod … Da konnte ich nicht
anders. Nachher hat er uns hergefahren.»
    Schwarz schien plötzlich sehr besorgt. «Ist dem Alten was passiert?»
    Der Rabbi lachte. «Er wollte seine Medizin nicht
einnehmen.»
    Schwarz runzelte die Stirn über diese leichtfertige
Bemerkung. In seiner Beziehung zum Rabbi war Humor sonst nur sein Privileg.
«Das klingt aber ernst … Steht es schlimm?»
    «Es ist immer ernst, wenn jemand in dem Alter krank wird.
Aber ich glaube, dass er sich wieder hochrappeln wird …» Und er erzählte kurz
von seinem Besuch.
    Die finstere Miene des Präsidenten hellte sich nicht auf – im
Gegenteil: «Was? Sie haben dem alten Mann mit einem Selbstmördergrab gedroht?
Das muss ihn schwer gekränkt haben.»
    «Ich glaube nicht. Wahrscheinlich hat es ihm sogar Spaß gemacht,
mit mir zu diskutieren. Er wusste, wie es gemeint war.»
    «Hoffentlich.»
    «Warum interessieren Sie sich so sehr für Mr. Goralsky? Er ist
erst seit kurzem Mitglied unserer Gemeinde und außerdem ein ewiger Nörgler.»
    «Ja, die Goralskys sind neu. Ich glaube, sie sind ungefähr vor
einem Jahr der Gemeinde beigetreten, als die alte Dame starb und sie das große
Grab in der Mitte des Friedhofs kauften … Leute mit so einem Vermögen sind für
uns wichtig, Rabbi. Sie wissen selbst, dass eine Organisation wie die unsere
viel Geld verschlingt. Und wenn man keins hat – welche Synagoge hat schon Geld?
–, sucht man sich reiche Mitglieder.»
    «Ja, anscheinend sind sie sehr vermögend. Aber das Geld gehört
doch sicher dem Sohn.»
    Schwarz lächelte. «Es sieht so aus, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit
ist der Vater der Kopf und der Sohn nur ein Laufbursche – jedenfalls solange
der Alte lebt.»
    «Mit anderen Worten: der Vater ist bereit, Geld zu geben, und
der Sohn nicht?»
    «Nein, nein – beide sind bereit zu spenden. Bei diesem Vermögen
kann man sich’s leisten, und außerdem wird’s von einem erwartet … Der Alte war
sein Leben lang ein frommer Jude; wenn so einer Geld spendet, dann sicher nur für
die Synagoge.
    Aber der junge Ben ist durch und durch Geschäftsmann. Und
wenn ein Geschäftsmann beschließt, eine Schenkung zu machen, betrachtet er es
vom geschäftlichen Standpunkt aus. Angenommen, er lässt eine Synagoge zum
Andenken an die Familie Goralsky bauen: Wer wird das merken außer den Einwohnern
von Barnard’s Crossing? Aber», fuhr er leiser fort, «wenn er einer Universität
ein Labor stiftet? Das ‹Goralsky-Forschungslaboratorium für Chemie› zum
Beispiel? Klingt doch besser, nicht wahr? Davon würden Wissenschaftler und
Gelehrte in der ganzen Welt hören.»
    Die Leute hatten ihre Plätze eingenommen, und es wurde still.
Alle blickten erwartungsvoll nach vorn. Der Rabbi sah auf die Uhr und sagte,
man könne beginnen.
    Die beiden Männer erhoben sich und nickten dem Kantor und
dem Vizepräsidenten zu. Der Kantor zog den weißen Samtvorhang vor der heiligen
Lade auf. Als er die beiden Holztüren des Thoraschrankes zurückschob und die
kostbaren Thorarollen sichtbar wurden, erhob sich die Gemeinde. Nun stimmte der
Kantor den wehmütigen und zugleich erhebenden Kol Nidre -Gesang an.
Dreimal sang er das Gebet, und dann war die Sonne untergegangen. Der
Versöhnungstag war angebrochen.
     
    «Wie ging es mit dem Lautsprecher?», fragte Miriam auf dem
Heimweg. «Musstest du dich sehr anstrengen?»
    «Überhaupt nicht. Ich hab nur etwas langsamer gesprochen.»
Er schmunzelte. «Aber unser guter Präsident war sehr verärgert. Man konnte ihn
kaum verstehen, als er bekannt gab, wer zur Thora aufgerufen werden sollte. Wer
hinten saß, kriegte es nicht mit, und Schwarz musste die Ersatzleute aufrufen –
du weißt ja, wer voraussichtlich drankommen wird, der wird vorher verständigt,
damit er auch da ist.
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